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"Gorbatschow wusste vom Putsch"

Von Gerhard Lechner

Politik

Viktor Kalaschnikow erlebte den Untergang des sowjetischen Imperiums als Agent des Geheimdienstes KGB in Wien.


Wien. Im Jahr 1991, vor mittlerweile 25 Jahren, zerfiel die Sowjetunion. Über die Hintergründe der Implosion des mächtigen Imperiums ist viel spekuliert worden - wie ihn die sowjetische Nomenklatura erlebte und welche Politik sie verfolgte, ist bis heute unklar. Viktor Kalaschnikow war zur Zeit der Wende hochrangiger Agent des Sowjet-Geheimdienstes KGB im Westen und brach später mit seinem russischen Nachfolgedienst. Wie er sich die dramatischen Ereignisse erklärt, berichtet er im WZ-Gespräch.

"Wiener Zeitung": Vor etwa einem Vierteljahrhundert hat der Zerfallsprozess der Sowjetunion begonnen. Wie kam es zum Zusammenbruch?

Viktor Kalaschnikow: Man muss eine Sache fest im Auge behalten: Die Sowjetunion war ein militarisiertes Monster, und das nicht nur aufgrund ihrer aggressiven Militärpolitik auf allen Kontinenten. Die Militarisierung erstreckte sich auch auf die Massenkultur oder den Sport. Wir waren in einer ständigen Kriegsvorbereitung. Es gab laufend Übungen, auch an den Universitäten, Kriegsspiele für die Jungpioniere und so weiter. Alles lief auf eine große Konfrontation mit dem Westen hinaus. Als Gorbatschow an die Macht kann, wollte er diese Politik erst einmal durch Beschleunigung und weitere Mobilisierung fortsetzen.

Im Stil seines Vorvorgängers Juri Andropow, der mit einer Mischung aus demokratisierenden und disziplinarischen Maßnahmen die Arbeitsproduktivität im Land erhöhen wollte?

Ja, so in der Art. Gorbatschow wollte eine Art besseren Sozialismus aufbauen mit etwas menschlicherem Antlitz, mit mehr Dynamik, mit mehr Offenheit und mit neuen Kadern. Aber er kam ziemlich bald in einen Konflikt mit den Generälen, mit der Militärführung. Die Militärs hielten ja im Land die Zügel in Händen. Gorbatschow sah sich durch die Armee in eine gefährliche Richtung getrieben und suchte nach einer Alternative zur Politik der Eskalation. Er entwickelte sein Konzept eines "gesamteuropäischen Hauses". Kernstück dieser Politik war die deutsche Wiedervereinigung.

Die deutsche Wiedervereinigung war in sowjetischem Interesse?

Man setzte ganz eindeutig einen Akzent auf die deutsche Frage - die Zusammenarbeit mit Deutschland entspricht ja auch einem alten Konzept noch aus Lenins Zeiten. Die Sowjetunion sollte mit Deutschland eine Art Kondominium über Europa bilden. Und aus der damaligen BRD kamen ja auch zahlreiche Politiker und Bankiers zu uns, die über die bevormundende Behandlung durch die Amerikaner klagten. Es kam - in der Tradition Bismarcks und des Vertrags von Rapallo 1922 sozusagen - ziemlich schnell zu einer Annäherung.

Hatte man bei so einer Entwicklung nicht Angst vor Machtverlust?

Wir sind damals davon ausgegangen, dass wir in der DDR ja schon eine oder zwei Generationen von Deutschen im sozialistischen oder prosowjetischen Sinn erzogen haben. Es gab dort - so hat man das gesehen - eine entwickelte Arbeiterklasse, es gab eine in der UdSSR geschulte Nomenklatur. Eine schrittweise Annäherung zwischen BRD und DDR wurde vor diesem Hintergrund relativ unproblematisch beurteilt. Wir dachten uns: Ein Stückchen DDR bleibt jedenfalls drinnen. Dazu haben wir unsere Agentennetzwerke im Westen, es gab bei den Linken mögliche Verbündete, die Demonstrationen gegen die Nato-Nachrüstung waren noch in Erinnerung. Was wir wollten, war eine Annäherung Schritt für Schritt, ohne Eile. Wir haben auch eine Schwächung der Nato dadurch für möglich gehalten.

Wie lange hat man denn im Kreml und im KGB an dieses Projekt geglaubt?

Bis Anfang 1990 in jedem Fall. Da waren die großen Umwälzungen des Jahres 1989 schon vorbei. Den Fall der Berliner Mauer haben wir übrigens überhaupt nicht als dramatisch empfunden. Ich habe drei Tage vor dem Fall schon aus Moskau erfahren, dass da etwas bevorsteht. Wir haben das ziemlich ruhig hingenommen und gedacht, der Fall der Grenzen gäbe dem Projekt des gesamteuropäischen Hauses eine neue Dynamik. Bis Anfang 1990 gingen wir davon aus, dass wir noch einige Jahre in Ostdeutschland bleiben und dann parallel mit den Amerikanern abziehen. Der Hauptgedanke war immer, die Amerikaner aus Europa wegzuschaffen - Ami go home, sozusagen.

War das nicht ein völlig illusorischer Gedanke?

Die Frage ist: Was wären die Alternativen gewesen? Doch letztlich nur die Fortsetzung der alten konfrontativen Politik. Gorbatschow hat sich für eine andere Politik entschieden, die ebenfalls gegen die Nato und die USA gerichtet war, die aber politisch flexibler war. Für sein "Neues Denken" bekam er ja auch international großes Lob, sogar vom Papst. Gorbatschow fühlte sich sicher, er könnte mit seinem Charme sein Konzept mit Leben erfüllen.

Jetzt ist dieses Konzept letztlich total gescheitert.

Ja, alles ging viel schneller als gedacht. Die deutsche Einheit war schon im Oktober 1990 vollzogen. Ende 1990 sah sich Moskau, sah sich auch Gorbatschow selbst an der Nase herumgeführt. Er kam jetzt auch im Inland von allen Seiten unter Druck: Einmal von den Leuten, die die das Gerede von den Reformen ernst genommen hatten, die die führende Rolle der Partei abschaffen wollten und die sowjetischen Strukturen reformieren. Und es rebellierten natürlich massiv die Konservativen im Militär und in der Bürokratie, die schon länger vor einem bevorstehenden Machtverlust der UdSSR warnten und die Entwicklungen in Osteuropa mit Argwohn beäugten. Wir selbst im KGB wurden Ende 1990 darüber orientiert, dass jetzt die Schrauben im Staat wieder angezogen würden. Man sammelte Informationen über die Erfahrungen von Militärregierungen in verschiedenen Ländern. Wir haben uns auch das chilenische Modell Augusto Pinochets angesehen. Die Vorbereitungen Richtung Putsch waren also schon angelaufen.

Hat Gorbatschow nichts davon gewusst?

Doch, ich bin sicher, dass er davon wusste, dass er grünes Licht gegeben hatte. Anfang 1991 gab es die blutigen Ereignisse im Baltikum, außerdem wurde Gorbatschow mehrfach vor einem bevorstehenden Putsch gewarnt, unter anderem vom US-amerikanischen Botschafter. Gorbatschow wusste, dass es in diese Richtung geht. Er selbst wollte dabei allerdings abseits stehen, für eine Weile zumindest, um sein internationales Ansehen nicht zu gefährden.

Für einen professionell geplanten Coup ist der Putsch im August 1991 aber irrsinnig dilettantisch vonstatten gegangen. . .

Das hängt mit der Struktur der UdSSR zusammen. Die Sowjetunion war ein sehr zentralisierter Staat. Wenn die Militärs und Geheimdienste in so einem Staat sehen, dass die oberste Führung sich von der politischen Verantwortung zu befreien trachtet, dann sind die verunsichert. Niemand möchte dann Verantwortung übernehmen, weil jeder Angst hat, im Falle eines Misserfolgs zur Verantwortung gezogen zu werden. Dieser Putsch-Präsident Gennadi Janajew war zudem noch eine Art Witzfigur, und dann stellte sich auch noch Boris Jelzin, selbst ein Apparatschik, den Apparatschiks entgegen.

Wie haben Sie selbst den Zusammenbruch der UdSSR erlebt?

Ich war damals in Wien stationiert. Unser Vorgesetzter exponierte sich nicht, er wartete ab, wie der Machtkampf ausgeht, und er hat gut daran getan. Nach dem Ende der UdSSR wurde unser Parteisekretär über Nacht zum Botschaftssekretär für Personalfragen. Partei gab es keine mehr, aber derselbe Mann machte eine ähnliche Arbeit. Man sagte sich: Nun sind wir keine Kommunisten mehr - diesen Scheiß lassen wir weg -,wir sind Patrioten. Im Oktober 1991, zwei Monate nach dem Putsch, besuchte ich das Hauptquartier des Nachrichtendienstes in Moskau. Es hatte dort immer ein Denkmal für die Tschekisten (die sowjetischen Geheimdienstler, Anm.) gegeben, die ihr Leben "für den Kommunismus" geopfert haben. Das Denkmal gab es noch, einzig die Inschrift war verändert. Es stand dort jetzt: "Für die Heimat". Das war die Aufarbeitung des Kommunismus auf tschekistische Art.

Viktor Kalaschnikow war als Oberstleutnant des sowjetischen KGB unter anderem in Brüssel und - zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs - in Wien stationiert. Später stieg der heute 62-Jährige aus dem russischen
Geheimdienst aus und arbeitete als freier Journalist. Er ist ein entfernter Verwandter von Michail Kalaschnikow, des Erfinders des gleichnamigen Gewehres. Heute lebt er als Pensionist in Moskau.