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Wo Brasiliens Träume beerdigt sind

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik

Korruputionsskandale am laufenden Band: Dilma Rousseff regiert ein Land, das den Glauben an seine Präsidenten, die Linke und vor allem an sich selbst verloren hat. Ein Augenschein.


Itaborai. Es ist ein ohrenbetäubender Lärm, der sich in der Nacht seinen Weg durch die Häuserschluchten von Rio de Janeiro, Sao Paulo und 14 weiteren Städten in ganz Brasilien sucht. "Dilma raus" und "Schluss mit der Korruption" rufen sie auch in der Rua Viveiro Ministro Castro in Rio und schlagen dazu mit Löffeln auf die Kochtöpfe, andere halten Schlüsseln, die sie gegen metallerne Laternenmasten klopfen. Es ist die landestypische Art des Protestes.

Der Zeitpunkt des Protests ist bewusst gewählt, denn justament in diesem Augenblick gibt die regierende sozialistische Arbeiterpartei (PT) im nationalen Fernsehen eine Erklärung ab - wenige Stunden, nachdem der persönliche Wahlkampfmanager von Staatspräsidentin Dilma Rousseff verhaftet wurde. Im Raum steht der Vorwurf, dass Rousseffs Wahlkampf 2014 auch mit Schmiergeld finanziert wurde, das beim staatlichen Ölkonzern Petrobras abgeschöpft worden war.

Justizminister Cardozomusste den Hut nehmen

Kein Tag vergeht, an dem nicht neue Vorwürfe im riesigen Korruptionsskandal um Petrobras und die "PT" ans Tageslicht kommen. An dem nicht weitere hochrangige Funktionäre und Manager verhaftet werden oder ihr Amt zurücklegen. Am Montag hatte Justizminister José Eduardo Cardozo seinen Rücktritt erklärt: Weil er die ihm unterstellte Bundespolizei bei den Korruptionsermittlungen nicht einzubremsen vermochte - vor allem jene nicht, die Roussefs Vorgänger und Parteikollegen Luiz Inacio Lula da Silva betreffen - sei er in der PT-Führung in Ungnade gefallen, schreiben die Medien. Zu seinem Nachfolger im Justizressort ernannte Rousseff den bisherigen Staatsanwalt von Bahia, Wellington Cesar, dem ein Naheverhältnis zur PT nachgesagt wird.

Die Wut der Menschen ist riesig, sie entlädt sich in katastrophalen Umfragewerten für Dilma Rousseff. Ob sie noch die Kraft hat, bis zum Ende ihrer Amtszeit 2019 durchzuhalten, ist ungewiss. Längst stellt sich die Frage, ob sie die Entscheidung darüber überhaupt noch in der Hand hat oder ob ihr die Staatsanwaltschaft zuvor kommt.

Die große Depression frisstsich durch Rios Umland

Obendrein ist auch noch ein Amtsenthebungsverfahren anhängig. Sie und ihr Vorgänger Lula da Silva sind bislang noch ungeschoren davongekommen, doch die Einschläge rücken näher. Lula muss sich wegen Bestechungs- und Geldwäscheverdachts rund um seine Penthausanlage samt Riesengrund, bald der Justiz erklären. Sie sprechen von einer Kampagne gegen die "PT".

Draußen vor der Stadt ist die große brasilianische Depression mit den Händen greifbar. Auf dem riesigen Parkplatz vor dem schmucken neuen Shopping-Center in Itaborai sind fast alle Plätze frei. Kunden gibt es keine, seit in dem eine halbe Autostunde entfernten Petrobras-Chemiepark Comperj rund 30.000 Menschen entlassen wurden. Auch das neue Ibis-Hotel versprüht einen seltsamen morbiden Charme, denn alle Ladenlokale unten im Erdgeschoss sind leer. Stattdessen haben die Arbeiter scheinbar überstürzt die Baustelle verlassen, nicht einmal die Geräte haben sie mitgenommen. Für umgerechnet knappe 38 Euro bietet eine Lichttafel am Straßenrand eine Übernachtung im Einzelzimmer an. Trotz des Spottpreises ist es in der Lobby gähnend leer. Gäste auf Geschäftsreise gibt es nicht.

Als das Hotel geplant wurde, glaubten die Manager an eine glänzende Zukunft der Stadt. Einziger Fahrgast an der Bushaltestelle unweit des Hotels ist Rodrigo, der seinen Nachnamen nicht nennen will, denn er hat das Glück, als einer der wenigen Arbeiter im Chemiepark noch in Lohn und Brot zu stehen. "Bis Juli müssen wir durchhalten. Dann kommt frisches Geld", sagt er mit aufgeregter Stimme. Es gibt Gerüchte, dass chinesische Investoren einsteigen wollen. Mehr haben sie in Itaborai nicht, nur dieses eine Gerücht. Denn Brasiliens Staat hat das Vorzeigeprojekt aufgegeben. Hier sollten Raffinerien und Chemie-Firmen entstehen. Von weitem sind ein paar Schornsteine und Türme zu sehen, wie Skelettknochen in die Landschaft ragen.

Die linke Regierung versprach blühende Landschaften, und viele Brasilianer glaubten dieser Goldgräberstimmung, doch mit dem niedrigen Ölpreis platzten die Träume. "Wir kämpfen weiter", sagt Bürgermeister Helil Cardozo trotzig. "Das sind wir den Leuten schuldig." Und während die Stadt stirbt, erfahren die Menschen aus Itaborai weitere Details aus dem Korruptionsskandal der Regierung, die ihnen falsche Versprechungen gemacht hat und der Firma, die sie entlassen hat.

In der Stadt ist die Lage noch deprimierender. Unzählige Ladenlokale stehen leer: "Zu vermieten", haben die Besitzer auf die heruntergelassenen Rollladen geklebt. Ein klein wenig wirkt die halbfertige Hauptstraße wie aus einer verlassenen Western-Stadt, in der die Goldgräber weitergezogen sind, weil es in Itaborai nichts mehr zu holen gibt. Der Staub vernebelt den Blick. Nur vor einem einzigen Geschäft gibt es eine lange Schlange: der Lotterie. Die Menschen klammern sich eben an den letzten Strohhalm, während mit der Arbeitslosigkeit auch die Kriminalität steigt.

Symbolort für zerplatzte Hoffnungen

Kein anderer Ort steht in Brasilien so für geplatzte Träume wie Itaborai und nirgendwo sonst ist der Glauben an die sozialistische Arbeiterpartei und ihre Aushängeschilder Lula da Silva und Dilma Rousseff so zerstört wie hier. Ein Ausweg ist nicht in Sicht, stattdessen beginnt ein langsames Sterben. Durch den Korruptionsskandal wird der Staat von innen ausgehöhlt, die Menschen vertrauen den Institutionen nicht mehr. Rousseff, die einst als wackere Kämpfern gegen die Schmiergelder galt, hat ihren Markenkern verloren. Ihre Uhr ist abgelaufen. Die einzige noch offene Frage ist, wann sie es auch selbst bemerkt und den Weg freimacht für einen Neuanfang.