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(K)Ein neuer Putsch in Brasilien?

Von Andreas Novy

Politik

Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff als Putschversuch der weißen Elite.


Brasília/Wien. Putsch ist ein Vorgehen, bei dem die Mächtigen Recht und Verfassung so beugen, dass nachhaltig gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verschoben werden. Am 31. März 1964 putschte das Militär in Brasilien gegen eine demokratische Regierung. Auch damals forderten Medien und DemonstrantInnen das Ende der Korruption. Und heute? Erleben wir erneut einen Putsch, wie er in Brasiliens Geschichte leider keine Seltenheit war, oder handelt es sich beim gegenwärtigen Impeachment-Verfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff um einen überfälligen Schritt, um die politische und wirtschaftliche Krise zu beenden?

Darüber scheiden sich die Geister in einem Land, das seit den Protesten im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 nicht mehr zur Ruhe kommt. Im selben Jahr gelang Dilma Rousseff zwar die Wiederwahl, das Wahlergebnis zeigte aber schon eine zunehmende Polarisierung zwischen der weißen Elite und den oftmals schwarzen und indigenen Schichten, denen die Sozialpolitik des vergangenen Jahrzehnts den Ausstieg aus der Armut ermöglicht hatte. Erzielte der Oppositionskandidat Aécio Neves sein bestes Wahlergebnis bei Auslandsbrasilianern an den Urnen Miamis, so wählten in den ländlichen Regionen des Nordostens bis zu 90 Prozent Rousseff.

Anders als nach den drei vorangegangenen verlorenen Wahlen akzeptierte die Opposition das Wahlergebnis 2014 nicht. Dies auch deshalb, weil der neu gewählte Kongress besonders stark von Konservativen dominiert ist. Die regierende Arbeiterpartei PT verfügt über wenig mehr als zehn Prozent der Abgeordneten.

Links blinken, rechts abbiegen

Um trotzdem regierungsfähig zu sein, setzte Rousseff auf Rezepte, mit denen die PT bis dahin erfolgreich war: "Links blinken, rechts abbiegen." Hatte sie noch im Wahlkampf eine Gegenkandidatin wegen ihrer Nähe zur Bankenwelt diskreditiert, setze sie im Jänner 2015 einen Banker als Finanzminister ein. Das empörte ihre linken Verbündeten und zeigte einen Opportunismus, der sein Ziel - die Wirtschaft zu stabilisieren - vollkommen verfehlte, gleichzeitig aber geschickt gegen die Präsidentin genutzt wurde.

In der Hitze der aktuellen Auseinandersetzung wird zurzeit vollkommen übersehen, dass erst unter Dilma Rousseff und ihrem Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva Korruptionsvorfälle bei Regierenden und Reichen ernsthaft verfolgt werden. Wurden früher Korruptionsskandale von der Staatsanwaltschaft regelmäßig archiviert, sitzen heute auch einst mächtige PT-Politiker im Gefängnis.

Justiz und Polizei verfügen über vollkommene Unabhängigkeit, was ein Teil des Personals in Justiz, Polizei und Staatsanwaltschaft, aber nicht in der Armee, nun für ihren Feldzug gegen die Regierung nutzt, während es noch nicht einmal ein Bauernopfer unter den Spitzen der Oppositionsparteien gibt.

Medien und Justiz erwecken seit Jahren in einer koordinierten Inszenierung tagtäglich den Eindruck, als hätte die Arbeiterpartei die Korruption in Brasilien erfunden. Die durchgängig regierungskritischen Medienkonzerne - andere gibt es in Brasilien nicht - vermischen systematisch Vorwürfe, Ermittlungen, Anklage und Verurteilungen. So kursieren ständig Vorwürfe gegen Lula und Dilma, die in Schlagzeilen ausgeschlachtet werden. Es gibt auch Ermittlungen, die aber seit Jahren in keiner Anzeige mündeten.

In den letzten Tagen bringt nun das größte Bauunternehmen Brasiliens Licht ins Dunkel und diskreditiert die Medienkampagne der letzten Jahre. Der Mischkonzern mit Hauptsitz in Salvador da Bahia Odebrecht legte seine Parteifinanzierungslisten offen. In der Liste von über 200 PolitikerInnen findet sich alles, was Rang und Namen hat. Nur zwei Namen fehlen - Lula und Dilma. Davon berichten die Medien nicht. Und es ist wohl der Gipfel der Heuchelei, dass sich der Starrichter Sérgio Moro, der gegen Lula ermittelt, nun - nachdem die Korruptionsvorwürfe durch fortgesetzte Wiederholung als fast bewiesen erscheinen - öffentlich für sein Fehlverhalten bei der Veröffentlichung privater Telefongespräche zwischen Lula und Dilma entschuldigt.

All das mag nicht fair sein, doch warum von Putsch sprechen? Es gibt einige gewichtige Gründe, in höchstem Maße besorgt zu sein. Da ist erstens der Blick in die Vergangenheit und die Rolle der international immer gut vernetzten Medienkonzerne bei früheren Staatsstreichen. 1954 und vor allem 1964 heizten die Medien die öffentliche Stimmung auf, kritisierten die Korruption der Regierung und appellierten an die Militärs, Ruhe, Ordnung und Demokratie wiederherzustellen.

Vage Anschuldigungen

Ähnlich dubios ist die Legitimität der parlamentarischen Opposition, in der zahlreiche Politiker in Korruptionsverfahren involviert sind - allen voran der parlamentarische Initiator des Impeachment-Verfahrens, Eduardo Cunha, der mit einer Korruptionsanklage konfrontiert ist. Viele Abgeordnete missdeuten das eingeleitete Impeachment-Verfahren als ein Misstrauensvotum gegen eine unpopuläre Regierung. Ein derartiges Recall-Verfahren ist aber in Brasiliens Verfassung nicht vorgesehen. Abgesetzt werden kann die Präsidentin nur, wenn sie schwerwiegende Verfassungsbrüche begangen hat. Unterstützung erhält die Opposition von der Anwaltskammer, die schon den Putsch 1964 billigte, heute aber mit massivem Widerstand ihrer eigenen Basis konfrontiert ist - nicht zuletzt auch deshalb, weil ein weiterer Vorwurf gegen Moro lautet, er habe illegal die Anwälte Lulas abgehört - ein rechtsstaatliches Kapitalvergehen.

Die Anschuldigungen des Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff sind vage. Da es keinerlei konkrete Beweise gibt, dass sie sich persönlich bereichert hat, wird ihr einzig vorgeworfen, die Regierung habe "Bilanzen geschönt", indem sie Sozial- und Konjunkturprogramme durch Budgetumschichtungen vorfinanziert habe - eine von den Vorgängerregierungen jahrzehntelang praktizierte und von den Höchstrichtern akzeptierte Praxis. Weiters habe sie die Fifa steuerlich begünstigt, gefolgt von anderen Vorwürfen, die man teilen kann, die aber kein Amtsenthebungsverfahren rechtfertigen.

Ku-Klux-Klan-Stimmung

Reicht all das für Putschvorwürfe?

Ja, wenn man Putsch als ein Vorgehen bezeichnet, bei dem die Mächtigen Recht und Verfassung so beugen, dass nachhaltig gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verschoben werden. In der Türkei und Russland nutzen die Regierungen Polizei und Gerichte als Ausführungsorgan ihrer autoritären Politik - das Wort "Putsch" wird nicht verwendet, wiewohl eine Abwahl Putins und Erdogans heute wohl mehr als unwahrscheinlich ist. In Brasilien ist die Situation anders, denn Dilma Rousseff ist zwar an der Regierung, wiewohl weitgehend als lame duck, weil ohne Mehrheit im Parlament. Macht hingegen hat weiterhin jene weiße Elite, die sich ein gutes Leben nur in einer Dienstbotengesellschaft vorstellen kann.

Sie kontrolliert Parlament, Medien, Justiz und Polizei. 13 Jahre PT-Regierung haben daran wenig geändert. 2012 in Paraguay und 2009 in Honduras war das koordinierte Vorgehen von Medien, Justiz und Parlament erfolgreich. Die demokratisch gewählten Präsidenten Fernando Lugo und Manuel Zelaya wurden des Amts enthoben. Wohl gab es vorübergehend Proteste gegen den Bruch von Rechtsstaatlichkeit, doch die Rückkehr der alten Oligarchen, die die Sklavenhalterordnung seit der Kolonialzeit manchmal diktatorisch, manchmal demokratisch verwalten, war von Dauer.

Doch Brasilien hat eine vielfältigere Zivilgesellschaft. Viele, die kein gutes Haar an der Regierung lassen und noch 2013 gegen sie demonstrierten, haben in den vergangenen Tagen Angst bekommen. Künstler, Homosexuelle und Indigene fürchten um ihre verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, die jetzt schon vom konservativen Kongress bedroht werden. Hausangestellte, die sehr zum Ärgernis eines Teils der Mittelschicht heute erstmals garantierte Rechte haben und einen Mindestlohn erhalten, beobachten Gesetzesnovellen mit Sorge, die all dies rückgängig machen wollen. Und dann sind da all jene, die einfach Angst vor rechtsextremen Gruppen haben, die seit kurzem offen auf der Straße und im Internet eine Ku-Klux-Klan-Stimmung verbreiten.

Heute, Donnerstag, wird eine bunte Allianz für Demokratie und Rechtsstaat auf die Straße gehen. 52 Jahre nach dem letzten Putsch werden die Demonstrationen ein Indiz dafür sein, wie groß der Widerstand gegen die Pläne der Elite ist. Denn anders als in Russland und der Türkei gibt es in Justiz, Polizei und Parlament weiterhin viele Unentschlossene. Um deren Herzen und Hirne wird auf der Straße und in den sozialen Netzwerken in den nächsten Wochen ein heftiges Werben einsetzen - mit offenem Ausgang.

Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er verfasste seine Habilitationsschrift zu "Brasilien: die Unordnung der Peripherie", erschienen im Promedia Verlag (2001). Die portugiesische Übersetzung "Brasil: A Desordem da Periferia" wurde am Weltsozialforum 2002 in Porto Alegre präsentiert.