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"Entwicklung ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon"

Von Thomas Seifert

Politik

Semil Jahan, der Kopf hinter dem UN-Report über die menschliche Entwicklung, im Interview.


"Wiener Zeitung": Sie sind der führende Kopf hinter dem "UN-Report über die menschliche Entwicklung", der einen Überblick über den wirtschaftlichen und sozialen Zustand der Welt bietet. Wie geht es denn der Menschheit?

Selim Jahan: Besser. In den vergangenen Jahrzehnten hat es in der menschlichen Entwicklung gewaltige Fortschritte gegeben. Von 1992 bis 2015 ist es gelungen, mehr als zwei Milliarden Menschen vom dem Joch einer niedrigen menschlichen Entwicklungsstufe zu befreien. Mehr als eine Milliarde Menschen konnten aus extremer Armut geholt werden. Die Menschheit war sehr erfolgreich darin, mehr als zwei Milliarden Menschen eine sichere Trinkwasserquelle bereitzustellen. In vielen Ländern besuchen heute mehr Mädchen eine Schule als jemals zuvor.

Das klingt ja alles ganz wunderbar.

Es gab tolle Fortschritte und diese dürfen wir getrost feiern.

Und die schlechte Nachricht?

Unsere Errungenschaften sind nicht gleich über den Erdball verteilt. Und zwar weder regional noch zwischen den Geschlechtern oder den verschiedenen ethnischen oder sozialen Gruppen. Auf vielen Ebenen gibt es immer noch erheblichen Mangel. Mehr als eine Milliarde Menschen leben immer noch in extremer Armut, in jeder Minute sterben sechs Kinder unter fünf Jahren. Zählen Sie einmal bis 60 und denken Sie dann daran! In jeder Stunde verlieren 33 Mütter ihr Leben bei der Geburt ihrer Kinder. Die Lehre, die ich daraus ziehe, ist folgende: Entwicklung ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon.

Lange Zeit haben sich Ökonomen vor allem auf Wirtschaftsindikatoren konzentriert. Heute wissen wir, dass das nur ein Aspekt des Wohlergehens für Menschen ist.

Das Einkommen spielt aber nach wie vor eine sehr zentrale Rolle. Aber wie heißt es so schön: Geld allein macht nicht glücklich. Für uns, die wir am Bericht der menschlichen Entwicklung arbeiten, bedeutet dies: Wir brauchen ein breiteres Set an Indikatoren. Müttersterblichkeit, Säuglingssterblichkeit, Kindersterblichkeit, Arbeitslosenrate oder auch der Verlust an Regenwaldfläche, um einen Umweltindikator herauszupicken. Wir versuchen, den Blick auf drei wichtige Dimensionen zu lenken. Erstens: ein langes und gesundes Leben. Zweitens: Wissen. Drittens: Lebensstandard. Diese Dimensionen machen sowohl in der entwickelten Welt als auch in Entwicklungsländern Sinn. Und so versuchen wir einen Überblick über die menschliche Entwicklung in einem bestimmten Land zu bekommen.

Sie betonen in Ihrem Bericht die Bedeutung von gestärkten Frauenrechten für die Entwicklung.

Frauen betrachten die Frage von Wohlfahrt und Entwicklung unterschiedlich als Männer. Der Zugang von Frauen ist meist konstruktiver und friedlicher, ihnen ist der Aspekt sozialen Zusammenhalts wichtiger als Männern. Frauen sind - vor allem, wenn es um wirtschaftliche Entscheidung geht - viel umsichtiger und vorsichtiger als Männer. Wenn man - egal in welcher Gesellschaft - einem Mann hundert Dollar in die Hand drückt, dann kauft er vielleicht ein Mobiltelefon oder konsumiert andere Dinge. Wenn man hingegen einer Frau hundert Dollar gibt, dann sorgt sie dafür, dass mit dem Geld nahrhafteres, besseres Essen auf den Tisch kommt. Und als Nächstes wird sie dafür sorgen, dass sie die Kinder in die Schule schicken kann. An diesem Beispiel ersieht man, welchen Einfluss die Stärkung von Frauen auf den Entwicklungspfad eines Landes hat. Frauen spielen auch bei der Friedenssicherung eine große Rolle. Sie stellen die Frage: Wie kann es nach einem Konflikt zur Versöhnung kommen? Wie kann der Wiederaufbau gelingen? Frauen sind in einem Konflikt immer in der Opferrolle, und so ist es überraschend, dass sie es sind, die nach einem Konflikt den konstruktivsten Part übernehmen.

Es überrascht nicht, dass in Ihrem UN-Human-Development-Bericht besonders auf die Bedeutung von Bildung für eine positive Eientwicklung eines Landes hingewiesen wird. Was sind die wichtigsten Faktoren erfolgreicher Bildungspolitik?

Manchmal kann man mit einfachen Mitteln tolle Erfolge erzielen: In Bangladesch konnte etwa die Schulbesuchsrate von Mädchen erheblich gesteigert werden, indem man jedem Schulmädchen zwei Schuluniformen zur Verfügung stellte. Es ist nämlich so, dass die Eltern die Burschen auch in informellen Shorts in die Schule schicken, bei Mädchen aber glauben, ein Minimum an Ausstattung zu brauchen. Eigene, getrennte Toiletten für Mädchen und Stipendien für Mädchen waren ein weiterer wichtiger Faktor. Drittens: Es geht nicht nur um den Eintritt in die Schule, sondern auch darum, dass die Kinder in der Schule bleiben und in die Sekundarstufe vorrücken. Viertens: Es geht nicht nur um Quantität, sondern auch Qualität. In den Vereinigten Staaten gibt es Schülerinnen und Schüler, die zwar die achte Schulstufe vollendet haben, aber weder richtig lesen noch richtig schreiben können. Der fünfte Punkt: Bildung ist heute der wichtigste Faktor bei der sozialen Ungleichheit. Früher war die Verteilung von Land der wichtigste Faktor sozialer Ungleichheit, zum Beispiel in Lateinamerika. Heute ist es so: Wenn man über gute Qualifikationen verfügt, dann wird die ganze Welt zum Arbeitsmarkt. Wenn man aber über nur geringe Qualifikationen verfügt, dann hat man diese Chancen nicht und man hat selbst im eigenen Land Schwierigkeiten, einen guten Arbeitsplatz zu finden. Sechster Punkt: Es gibt in den meisten Entwicklungsländern eine Dualität des Bildungssystems. Für die Eliten gibt es ein teilweise recht gut funktionierenden Elite-Bildungssystem, für die Ärmsten so gut wie keine adäquaten Bildungseinrichtungen. Die Zeit ist gekommen, um diese Dualität zu reduzieren.

Gibt es nicht auch einen Unterschied zwischen formaler Bildung und tatsächlicher Qualifikation?

Dieser Unterschied besteht. Es mag etwa schon sein, dass jemand einen Abschluss hat, ein Zertifikat, ein Zeugnis. Dann ist aber die Frage zu stellen, welches Wissen hat man damit erlangt? Man mag zwar ein Zertifikat als Mechaniker haben, aber wenn man nicht an den Maschinen ausgebildet ist, dann mag man zwar die formale Bildung erhalten haben, was aber fehlt, ist das nötige Wissen, wie man mit der Maschine umgeht. Ein weiterer wichtiger Punkt: Trägt die Bildung dazu bei, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, als Bürger im Staatswesen eine Rolle zu spielen und ihre politischen Entscheidungen aus einer Perspektive des aufgeklärten Eigeninteresses zu fällen? Dieser Punkt wird unterschätzt, denke ich.

Anderes Thema: Migration. Fluch oder Segen?

Migration ist seit Jahrhunderten ein Faktum. Aus Europa hatten wir über Jahrzehnte einen Massenexodus. Italiener, Iren, Deutsche, Skandinavier - sie alle sind in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Es gab und gibt push-Effekte, Kriege, Krisen, Katastrophen. Und es gibt pull-Effekte: Menschen, die auf der Suche nach einem neuen, besseren Leben sind, machen sich zu neuen Ufern auf. Was wir heute aber sehen, ist, dass Menschen sich aus purer Verzweiflung auf den Weg machen. Denn wenn die Menschen sagen, dass sie lieber im Mittelmeer sterben als in in dem Land, aus dem sie stammen, dann ist das doch pure Verzweiflung.

In vielen Debatten wird derzeit die Frage diskutiert, ob durch die Migration die Sicherheit des jeweiligen Gastgeber-Landes gefährdet ist. Ist das der Fall?

Nein, da ist sehr viel Hysterie im Spiel. Am wichtigsten ist und bleibt der ökonomische Aspekt: Migranten leisten ihren Beitrag zum Arbeitsmarkt des Ziellandes.

Europa ist ja nicht die einzige Region, in der große Migrationsströme eine Rolle spielen.

So ist es. Menschen aus Myanmar oder Bangladesch steigen in kleine Dinghis, um nach Malaysia, Australien oder Indonesien zu gelangen. Viele kommen bei diesem Versuch ums Leben. Wir vergessen zudem, dass es in den Krisenregionen der Welt Millionen von Inlandsvertriebenen gibt. Ein weiteres Faktum: Es sind nicht immer Kriege und Krisen die Ursache für diese Migrationsbewegungen. Sondern immer öfter ist der Klimawandel einer der Gründe. Migration bedeutet für mich auch eine erhöhte menschliche Mobilität. Diese Mobilität vergrößert gemeinhin die Chancen von Menschen. Daher wird diese Form der Mobilität auch weitergehen. Die Herausforderung wird sein, wie man diese menschlichen Ressourcen nützt, wie man sie verbessert, damit Migranten einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft, in die sie migriert sind, leisten können.

Was sind aus Ihrer Sicht der Herausforderungen der Zukunft?

Wenn man 20 Jahre zurückblickt und 20 Jahre in die Zukunft blickt, dann sehe ich fünf Herausforderungen. Die wichtigste: Ungleichheit. Ungleichheit zwischen Ländern, zwischen Regionen, zwischen sozioökonomischen Gruppen, zwischen ethnischen Gruppen. Und wenn ich von Ungleichheit spreche, dann meine ich nicht nur ökonomische Ungleichheit, sondern auch Chancen-Ungleichheit. Wenn diese Entwicklung weitergeht, dann hat es nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und politische Folgen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Klimawandel. Gerade jene Bauern, die in ohnehin schon fragilen Landstrichen arbeiten, werden in Zukunft unter noch größeren Stress stehen. Das bringt eine höhere Armutsgefährdung mit sich. Drittens: Urbanisierung. In vielen Ländern wachsen und wuchern die Städte immer schneller. Es werden Megacitys gebaut, aber es mangelt an der physischen Infrastruktur und an den öffentlichen Diensten. Die Menschen kommen vom Land in die Städte und enden dort im informellen Sektor. Und das vergrößert wiederum die Armut. Viertens: Schocks und Verwundbarkeit. Schocks werden in Zukunft eher die Norm und nicht die Ausnahme sein. Diese Schocks können aus dem Finanzsektor kommen, wie wir das 2008/09 erlebt haben. Es könnten Naturkatastrophen sein, wie der Tsunami 2004 im Indischen Ozean oder 2011 in Japan. Politischer Extremismus und Terror könnten eine weitere Quelle von Schocks sein. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Schocks zur Norm werden, dann müssen wir die Entwicklungspolitik anders denken.

Und zwar wie?

Wir müssen noch mehr als bisher daran denken, robuste, stabile und unverwüstliche Strukturen aufzubauen. Wir brauchen Schock-Absorber. Wir sind zu sehr auf das einzelne Individuum fixiert, zu sehr auf einzelne Länder. Wir müssen endlich erkennen, dass in einer globalisierten Welt leben. Die digitale Revolution hat das Antlitz der globalisierten Welt verändert. Das müssen wir erkennen und endlich als globale Bürger agieren. Wir müssen die globalen Institutionen stärken. Wir müssen erkennen: Es gibt einen Planeten, eine Menschheit. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie bringen wir diese Menschheit zusammen, damit wir gemeinsam einen Zustand erreichen, bei dem das Glück und die Wohlfahrt von einer möglichst großen Anzahl von Menschen maximiert werden.

Selim Jahan ist Direktor des Büros, das den Bericht über die menschliche Entwicklung im Auftrag des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) erstellt. Zuvor war Jahan Armutsforscher beim UNDP. Vor seiner Tätigkeit beim UNDP in New York war Jahan Professor für Ökonomie an der Universität Dhaka in Banghadesch und Wirtschaftsberater der Planungskommission der Regierung von Bangladesch. Er hat an der Universität von Maryland (USA) und der McGill-Universität in Montreal (Kanada) gelehrt und als Berater verschiedener internationaler Organisationen gewirkt, darunter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) und der Weltbank.