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Warten auf den nächsten Angriff

Von Siobhán Geets aus Stepanakert

Politik

Zwischen Berg-Karabach und Aserbaidschan kam es zum heftigsten Gewaltausbruch seit 1994. Eine Reportage von der Front.


Stepanakert. Ein Schuss pfeift über den Schützengraben hinweg. "Scharfschütze", erklärt der Soldat der karabachischen Armee ungerührt und bewegt sich weiter Richtung Stützpunkt. Die Frontlinie verläuft keine Autostunde entfernt von Stepanakert, der Hauptstadt der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach. Der Weg von Stepanakert Richtung Osten, eine staubige Piste, führt vorbei an verlassenen Dörfern. Die Ruinen und Mauerreste sind das Resultat eines Krieges um die Enklave, der von 1992 bis 1994 mehr als 30.000 Menschen das Leben kostete.

© Grafik: WZOnline / Moritz Ziegler

Der Soldat geht den schmalen Graben entlang, vorbei an einer Alarmanlage aus über den Weg gespannten rostigen Dosen, ins Zentrum des Schützengrabens. Wie in einem Kriegsgebiet sieht es hier nicht aus. Im Schatten sitzen Soldaten und trinken Kaffee, in einer Ecke schläft ein Kätzchen. Ein Hund läuft den Besuchern entgegen, vollführt einen Freudentanz, lässt sich hinter den Ohren kraulen. "Entschuldigung", sagt Kommandant Tewos Harutyunyan, "wir haben lange keinen Besuch mehr gehabt". Rund ein Dutzend Männer harren hier aus, seit der Konflikt mit dem verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan wieder ausgebrochen ist. Vierhundert Meter weiter sitzt der Feind. Durch den Schlitz in einer engen Betonfestung ist der Schützengraben der Aseris zu sehen.

Wer in der Nacht zum 2. April zuerst geschossen hat, ist unklar, Karabach und Aserbaidschan schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Offiziell gab es in den vier Tagen, bevor eine brüchige Waffenruhe vereinbart wurde, etwa 100 Tote. Vor Ort spricht man von bis zu 500 Opfern. Sicher ist: Erstmals seit Jahren wurde wieder schweres Kriegsgerät wie Artillerie und Panzer verwendet.

"Ankara traut sich jetzt mehr"

Hass und Kriegsrhetorik beherrschen die Beziehungen zwischen Berg-Karabachs Schutzmacht Armenien und seinem östlichen Nachbarn Aserbaidschan. Der Konflikt gilt zwar als "eingefroren", von Frieden kann aber seit Jahrzehnten keine Rede mehr sein. Zu Sowjetzeiten war Karabach eine an Aserbaidschan angegliederte autonome Republik. Zwar waren 75 Prozent der Bevölkerung Armenier, doch Stalin hatte den Aseris das Gebiet 1921 zugesprochen. Als Karabach 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, schickte Aserbaidschan Truppen ins Grenzgebiet. Armenien tat das Gleiche - und gewann den Krieg. Zusätzlich zum historischen Heimatgebiet besetzte Armenien sieben Provinzen auf aserbaidschanischem Boden - als Pufferzone, wie es damals hieß.

Heute ist Karabach fast ausschließlich von ethnischen Armeniern bewohnt. Die Republik ist de facto selbstständig, wird aber nach wie vor von Eriwan unterstützt. Völkerrechtlich gehört Karabach zu Aserbaischan, anerkannt wird es nicht einmal von Armenien. Wohl aus verhandlungstaktischen Gründen, denn das Land im Südkaukasus sitzt gemeinsam mit Aserbaidschan, Russland, Frankreich und den USA in der OSZE-geführten Minsk-Gruppe. Karabach ist seit 1998 aus den Friedensverhandlungen ausgeschlossen - ein kleiner Sieg für Aserbaidschan.

Die Regierung in Stepanakert ist überzeugt, dass Ankara - ein traditioneller Verbündeter Aserbaidschans - Spezialkräfte zur Unterstützung der Aseris schickt. Auch der Zeitpunkt des Angriffs sei kein Zufall: Durch den Deal mit der EU in der Flüchtlingskrise habe die Türkei Rückenwind bekommen.

"Ankara traut sich jetzt mehr", sagt auch der luxemburgische Europaabgeordnete Frank Engel. Der Konservative sitzt im Parlament von Stepanakert vor einer Handvoll Abgeordneter und erzählt von seiner Gesellschaft der Freunde Berg-Karabachs im EU-Parlament. Eine Handvoll Mitglieder habe er schon beisammen. "Viele habe ich abgelehnt, weil sich nur die Verrückten melden, die ETA-Versteher und andere Irre", sagt Engel, "mit denen sollt ihr nicht in Verbindung gebracht werden." Er verspricht, bald mehr Mitglieder zu vereinen. Die letzte Sitzung zum Thema im Europäischen Parlament sei sehr positiv gewesen, besser als je zuvor. Das liege daran, dass sich die Sicht auf Aserbaidschan verändert habe. Baku hatte die von der OSZE vorgeschlagene Waffenruhe abgelehnt. "Das zeigt Wirkung", sagt Engel, "die Welt blickt jetzt mehr auf Berg-Karabach".

Aserbaidschan rüstet auf

Während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Armenien für seine innenpolitischen Reformen lobt, sinkt das internationale Ansehen Aserbaidschans. Präsident Ilham Alijew führt das Land mit eiserner Hand, lässt Journalisten in Kerker werfen und lehnt Gespräche mit Berg-Karabach kategorisch ab.

Alijew will das Gebiet zurückerobern - wenn nötig mit Waffengewalt. Für den konservativen Querdenker Engel, der sich seit zehn Jahren für Berg-Karabach einsetzt, ist klar: Die Unabhängigkeitserklärung Karabachs 1991 war rechtmäßig im Sinne der sowjetischen Verfassung, der darauf folgende Angriff Bakus ein Annexionskrieg mit dem Ziel, die Autonomie Karabachs völlig auszulöschen. Engel ist überzeugt: Bekämen sie die Chance dazu, die Aseris würden hier einen Genozid anrichten. Gerade deshalb brauche es die Anerkennung des Staates. Um das zu erreichen, müsse aber noch viel getan werden. Die guten Seiten Karabachs, die demokratische Verfassung, die abgehaltenen Referenden, all das sei nicht genug. "Wir", sagt Engel bedeutungsschwer zu den Abgeordneten, "müssen uns weiter verbessern".

Kreuz aus Projektilen: In Berg-Karabach leben fast ausschließlich christliche Armenier.

Doch der Konflikt ist festgefahren, Europa interessiert sich nicht für das kleine Gebiet im Kaukasus. Die EU gibt sich besorgt, aktiv einmischen will sie sich nicht. Über seine Mitgliedschaft im Europarat ist Aserbaidschan zudem in die europäischen Strukturen eingebunden, während Berg-Karabach als Staat offiziell nicht existiert. Westliche Medien berichten über die Region, wenn es wieder einmal kracht - genauso schnell ist das Land wieder vergessen. Die wahren Player in der Region heißen Moskau und Ankara. Die Stimmung zwischen Russland und dem Nato-Mitglied, durch entgegengesetzte Interessen im Syrien-Krieg ohnehin schon auf dem Tiefpunkt, könnte sich bei einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan zu einem noch viel größeren Konflikt auswachsen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan machte Anfang April deutlich, hinter Aserbaidschan zu stehen und das muslimische Land "bis zum Ende" zu unterstützen. Und Moskau betont zwar immer wieder sein Interesse an einer raschen Beilegung des Konflikts, unterhält aber engere Beziehungen zum christlichen Armenien, wo es auch einen Militärstützpunkt hat. Russland hat großes Interesse daran, seinen Einfluss in der Region zu halten - und beliefert beide Kriegsparteien mit Waffen. Aserbaidschan kann es sich leisten, es hat in den vergangenen Jahren einen erheblichen Teil seiner Öl- und Gas-Einnahmen in Kriegsgerät gesteckt. Dass Armenien die Kosten für die Aufrüstung Karabachs trägt, ist ein offenes Geheimnis.

Alarmanlage im Schützengraben.

"Krieg ist langweilig"

Ein Monat nach dem erneuten Ausbruch des Konflikts sind es ausgerechnet die Soldaten, die sich am dringendsten Frieden wünschen. "Ich kann mir vorstellen, den Aseris irgendwann zu verzeihen", sagt einer von ihnen. Wie die meisten Bewohner Berg-Karabachs haben auch die Soldaten den Krieg satt. "Aber die Entscheidungsträger denken nicht wie wir." Ein halbes Dutzend Männer sitzen am Tisch im Schatten und trinken Kaffee, einer von ihnen hält das Kätzchen im Arm, der Hund drängt sich dazwischen. "Siehst du, auch die beiden sind Freunde in dieser Situation", scherzt ein junger Frontkämpfer. Seit Anfang April haben die Soldaten ihre Familien nicht mehr gesehen. "Wir gehen erst, wenn wir hier nicht mehr gebraucht werden", sagt einer. Ein anderer ärgert sich über die Provokationen der Aseris, die in der Nacht über die Frontlinien kämen, um Dörfer anzugreifen und Friedhöfe zu entweihen.

Wie zur Untermauerung ist noch ein Schuss zu hören. Das Projektil schlägt im Erdwall auf der anderen Seite des Schützengrabens ein. Die Soldaten bleiben ungerührt, sie sind es gewohnt. An der Front gehören Schüsse seit Jahren zum Alltag. "Krieg ist langweilig", findet einer.