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Eine Geschichte von Büchern und Salz

Von Teresa Reiter

Politik

Frauenrechtsaktivistin Urvashi Butalia kritisiert das unvollständige Bild des Auslandes über die Stellung der Frau in Indien.


Vergewaltigungen stehen in Indien auf der Tagesordnung. Weltweit traurige Berühmtheit erlangte 2012 der Fall einer jungen Frau, die von sechs Männern brutal missbraucht wurde und infolgedessen verstarb. Doch das Bild, das im Ausland von Frauen und dem Umgang mit Frauenrechten in Indien herrscht, sei unvollständig, meint die Frauenrechtsaktivistin und Verlegerin Urvashi Butalia. Sie stellt die Mutgeschichte indischer Frauen dem oft dominierenden Opfer-Image gegenüber.

"Wiener Zeitung": Wenn wir hier in Europa an Frauen in Indien denken, fällt uns schnell die Gruppenvergewaltigung von Delhi 2012 ein. Andere Geschichten über Frauenrechte in Indien erhielten kaum Aufmerksamkeit . . .

Urvashi Butalia: Seit dieser Gruppenvergewaltigung passiert es oft, dass indische Frauen international hauptsächlich als Opfer und Indien als die Vergewaltigungshauptstadt der Welt gesehen werden. Beides ist nicht wahr. Gewalt gegen Frauen ist überall auf der Welt furchtbar und nimmt überall eigene kulturelle Formen an. Für jede Geschichte von sexueller Gewalt in Indien gibt es tausende über das Gegenteil, Geschichten von Mut, Widerstand und wunderbaren Errungenschaften. Für Indien ist diese Art von Aufmerksamkeit gleichzeitig positiv und negativ. Auf der einen Seite generieren internationale Schlagzeilen auch Druck auf unser Land. Wir hoffen, dass das unseren Staat drängt, unbedingt nötige Veränderung einzuleiten. Andererseits ist es schlecht, dass man uns so einseitig darstellt.

Wo liegen die Wurzeln der indischen Frauenrechtsbewegung?

Es ist eine sehr starke Bewegung, die schon im 19. Jahrhundert entstand, als sie noch eine Bewegung für soziale Reformen war, in der Frauen und Frauenpolitik zentral waren. Sie war in erster Linie dazu da, die britische Kolonialmacht zu konfrontieren. Zu dieser Zeit sind Frauenanliegen noch von Männern vorgebracht worden. Die indischen Männer wollten den Briten zeigen, dass sie nicht so schlecht sind und das Leben ihrer Frauen verbessern können. Im frühen 20. Jahrhundert haben Frauen selbst die Bühne betreten und sich für Themen wie Bildung, Politik und das Wahlrecht eingesetzt, bis das Ganze dann um 1920 eine wirkliche Freiheitsbewegung gegen den Kolonialismus wurde.

Welche Rolle spielten Frauen bei der Nationswerdung Indiens?

Sie waren sehr engagiert. Zur Zeit Gandhis etwa versuchten die Briten, so viel Geld aus Indien herauszupressen wie möglich. Sie führten eine Steuer auf Salz ein und verboten den Indern, selbst Salz zu produzieren. Gandhi führte einen Marsch zum Ozean an, wo man aus Protest Salz machen wollte. Die Frauen schloss er davon vorerst aus. Man dachte, sie seien körperlich zu schwach dafür. Aber die Frauen kamen angerannt und riefen: "Wir sind diejenigen, die das Salz verwenden, wir wollen auch Salz machen." Sie übernahmen den Protest, es gibt viele Bilder von damals, wie sie im Ozean stehen. Später sind viele dafür eingesperrt worden. Bei einem anderen Protest hat Gandhi dazu aufgerufen, keine importierte Kleidung mehr zu tragen. Die Briten überführten Baumwolle aus Indien nach Großbritannien, um sie dort zu spinnen und uns die Kleidung zu verkaufen. Also sagte Gandhi, wir werden aus Protest unsere eigene Kleidung machen. Die Frauen haben sich ans Spinnrad gesetzt und indische Kleidung produziert. Später ging man auf die Straße und verbrannte die fremden Kleider.

Das war die Generation Ihrer Mutter. Hat Sie deren Erfahrung beeinflusst?

Unsere Mütter waren sehr inspirierend für uns. Unser Feminismus mag heute anders sein als ihrer damals, aber die Erfahrung, ein Teil der Bewegung gegen die britische Kolonialherrschaft zu sein, ist wunderbar für uns. Wir erreichten schließlich die Unabhängigkeit und bekamen eine ziemlich fortschrittliche Verfassung. Die Frauen sind, wie in vielen Ländern, wieder von der politischen Bühne verschwunden. Es hat 20 bis 30 Jahre gedauert, bis sie merkten, dass die Versprechen der Unabhängigkeit nicht eingehalten wurden, also formierte sich in den 1970ern, als auch ich anfing, mich zu engagieren, eine neue Bewegung. Sie wurde sehr stark und hat es geschafft, einige Gesetze zu beeinflussen. Aber natürlich gibt es eine Lücke zwischen Gesetz und Umsetzung.

In vielen Ländern ist die feministische Bewegung ein Elitenprojekt. Ist das auch in Indien so?

Es ist keine geschlossene Bewegung, sie nimmt unterschiedliche Formen an und umfasst verschiedene Klassen, Frauen vom Land und aus den Städten. Es gibt auch keine Anführerin. Aber die Bewegung ist überall und der Grund, dass man so viel über die Gewalt gegen Frauen in Indien hört, ist auch, dass diese Aktivistinnen das Thema an erster Stelle ihrer Agenda gehalten haben. Sie werden davon nicht abrücken. Es ist ein Problem, wenn das als einziger Punkt international aufgegriffen wird, aber für uns ist es auch wichtig, das auf der Tagesordnung zu halten, um Druck aufzubauen.

Sie sind Gründerin des ersten feministischen Buchverlages in Indien. Bücher spielen in Indien eine große Rolle. Worin sehen Sie die Bedeutung von Verlagshäusern für das Empowerment von Frauen?

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern hat der Buchmarkt in Indien trotz Digitalisierung immer noch ein enormes Wachstumspotenzial. Das hat damit zu tun, dass wir im Bereich Bildung noch viel Verbesserungsbedarf haben. Bücher sind immer noch das billigste Medium, deshalb gibt es einen enormen Bedarf. Vor 30 Jahren waren wir das erste Verlagshaus, das Bücher von und über Frauen verlegte. Es heißt heute Zubaan Books. Wegen meines Engagements als Frauenrechtsaktivistin hatte ich viele Fragen. Warum gibt es Gewalt gegen Frauen? Was passiert mit jenen, die vom Land in die Stadt migrieren? Was können wir aus unserer Geschichte lernen? Es gab nur Bücher westlicher Professoren, die Geld hatten, drei Monate in Indien verbrachten, ein Buch darüber schrieben. Wir konnten diese Bücher dann teuer kaufen.

Fremde schrieben Ihre Geschichte auf?

Genau. Ich dachte, wir haben die Kompetenz, warum machen wir das nicht selbst? Ich habe damals in einem Verlag gearbeitet und das vorgeschlagen. Mein Chef war aber nicht an meiner Idee interessiert. Er war kein Antifeminist, er konnte sich nur nicht vorstellen, dass man damit Geld verdienen kann. Ich dachte mir: Okay, wenn er es nicht tun will, dann mache ich das eben selbst und gründete mit einer Freundin einen kleinen Verlag. Die ersten Kunden waren Mitglieder der Frauenbewegung und mehr und mehr Leute fragten in den Buchhandlungen nach unseren Büchern. Heute gibt es in Indien viele Verlagshäuser, die Bücher von und über Frauen publizieren. Damals waren wir die Einzigen.

Indien ist sehr heterogen, allein wenn man an die vielen Sprachen denkt. Wie inklusiv ist die Arbeit Ihres Verlages?

Es gibt 22 Sprachen in Indien, die größten Sprachgruppen sprechen Englisch und Hindi. Englisch ist die Sprache der Macht und des Einflusses, also haben wir mit englischsprachigen Büchern angefangen. Aber ich stellte mir die Frage, wie man in einer Elitensprache publizieren und gleichzeitig glauben kann, dass man nur im Entferntesten etwas Politisches tut. Wir haben daher die Stimmen marginalisierter Frauen aus niedrigen Kasten und aus kleinen Dörfern publiziert. Viele unserer Bücher werden heute übersetzt. Außerdem schreiben auch viele Männer für uns und schließen sich den Frauenrechtskampagnen an. Vor 30 Jahren wären sie kilometerweit gerannt, wenn man sie darum gebeten hätte, weil sie nicht als Feministen gesehen werden wollten. Aber die Dinge beginnen sich zu verändern.

Zur Person
Urvashi Butalia
gründete 1984 den ersten feministischen Verlag in Indien mit und leitet heute den Verlag Zubaan. Mehrere ihrer Werke wurden auf Deutsch veröffentlicht, darunter "Frauen in Indien". Butalia war zu Gast beim Symposion Dürnstein.