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Falludscha, der Kopf der Schlange

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Ohne eine ernst zu nehmende politische Strategie ist die irakische Stadt Falludscha militärisch nicht zu halten.


Falludscha/Ramadi. Wenn man der irakischen Regierung Glauben schenkt, so ist nun auch die letzte Bastion der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im 50 Kilometer westlich von Bagdad gelegenen Falludscha befreit worden. Laut dem Chef der Anti-Terror-Spezialkräfte, Generalleutnant Abdul Wahab al-Saadi, haben seine Soldaten jetzt auch den Bezirk Golan im Nordwesten der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Allerdings hieß es vor zwei Wochen schon einmal, dass Falludscha zu 90 Prozent in der Hand der Regierungstruppen sei. Kurz darauf widersprachen die Amerikaner: Lediglich ein Drittel der ehemals 350.000 Einwohner zählenden größten Stadt in der Provinz Anbar sei zurückerobert. Die Kämpfe hielten an. So ist auch die neuerliche Ankündigung der Verantwortlichen mit Vorsicht zu genießen.

Doch die Kontroversen um die Koeffizienten der Rückeroberung sind nicht ausschlaggebend dafür, dass mittlerweile rund 65.000 Menschen aus Falludscha geflohen sind. Es ist die Reaktion auf das monatelange Eingesperrtsein. Hinzu kommt ein abgrundtiefes Misstrauen, das die Mehrheit der Menschen in Falludscha mittlerweile gegen alle und jeden hegt. "Die meisten von uns wollen nur noch weg", sagen die Flüchtlinge aus Falludscha in Ramadi, "weg und nie mehr zurück." Zu Tausenden fliehen sie aus der Stadt.

Honeymoon in Falludscha

Hilfsorganisationen haben Zeltstädte in der Umgebung aufgebaut, aber auch weiter entfernt. Manche Flüchtlinge seien derart traumatisiert, dass sie hastig immer weitereilen, immer mit der Angst im Nacken, sie würden verfolgt und umgebracht, erzählen Helfer. Nicht wenige kommen in dem fast völlig zerstörten Ramadi an, das 40 Kilometer von Falludscha entfernt liegt und erst seit vergangenem März als tatsächlich vom IS befreit gilt. Auch hier hatte die irakische Regierung schon im Dezember von einer gelungenen Rückeroberung gesprochen. Die meisten der Fliehenden seien ziemlich ausgehungert, heißt es.

Seit Februar hatte die irakische Armee einen Belagerungsring um Falludscha gezogen, der nichts durchließ, auch keine Lebensmittel. Die Strategie hieß Aushungern. Die Bewohner Falludschas sollten selbst gegen den IS aufbegehren. Doch das Kalkül ging nicht auf. Die brutalen Dschihadisten metzelten alle nieder, die sich ihnen in den Weg stellten. Das von irakischen Soldaten gefundene Massengrab in einem Vorort von Falludscha ist der traurige Beweis dafür.

"Der Kopf der Schlange" wird Falludscha von vielen Irakern sinnbildlich genannt, denn hier begann der Siegeszug der Dschihadisten im Irak. Ende Jänner 2014 patrouillierten sie durch die Stadt, hissten ihre schwarzen Fahnen auf allen öffentlichen Gebäuden und setzten alsbald einen Statthalter ein. Die Stadt der Moscheen wurde zur ersten IS-Hochburg, zur ersten Brutstätte der Scharia-Ideologie, zum Kernland des Kalifats - all das nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Bagdad entfernt. Als Falludscha in die Hände von Daesh fiel, wie die Iraker den IS nennen, dauerte es noch fünf Monate, ehe die Gotteskrieger Mossul und Tikrit überrollten. In Falludscha wurden Selbstmordattentäter geschult und nach Bagdad und den Rest des Irak geschickt, Werkstätten zum Bombenbauen errichtet, Uniformen für die Kämpfer genäht. Von Falludscha aus wurden Versorgungswege nach Syrien begründet und nach und nach die gesamte Provinz Anbar erobert. Zeitweise fühlten sich die finsteren Gesellen so sicher, dass sie ihre Kämpfer sogar dorthin auf Hochzeitsreise schickten: Honeymoon in Falludscha.

"Wir sind noch immer da"

In den Jahren zuvor war Falludscha Zentrum des sunnitischen Widerstands gegen die Nachkriegsordnung im Irak gewesen. Die Sunniten wehrten sich gegen die systematische Diskriminierung, die sie während der Regierungszeit des Schiiten Nuri al-Maliki zu erleiden hatten. Und so galten ihnen die Dschihadisten zunächst als Verbündete. Doch bald merkten die Sunniten, dass die finsteren Gotteskrieger ganz andere Ziele verfolgen als sie zunächst vermutet hatten.

Bis heute kann man nicht sagen, dass der IS Falludscha verloren hat - auch wenn die Befreier schon überall wieder die irakische Fahne gehisst haben. Denn ob die Terrormiliz gänzlich aus der Stadt vertrieben wird und in Falludscha eine urbane Normalität wiederhergestellt werden kann, hängt nicht allein von der militärischen Stärke der Anti-IS-Allianz ab. Ohne eine ernst zu nehmende politische Strategie wird ein militärischer Sieg keinen dauerhaften Bestand haben.

Die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad muss den Sunniten von Falludscha und darüber hinaus eine Perspektive anbieten, die sie überzeugt, in ihre Städte zurückzukehren, sie wieder aufzubauen und auf Augenhöhe am politischen Prozess im Land teilzuhaben. Ansonsten besteht das Risiko, dass die Menschen erneut in die Arme von Daesh fallen, die sich ohnehin als Rächer der Sunniten ausgibt. Am Montag zündete ein Selbstmordattentäter seinen tödlichen Sprenggürtel vor einer Moschee in der Stadt Abu Ghraib, auf halber Strecke zwischen Falludscha und Bagdad, nur 25 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Er riss zwölf Menschen mit in den Tod. Die Botschaft des Anschlags ist eindeutig: "Wir sind noch immer da!"