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"Völliges Versagen der politischen Klasse"

Von Konstanze Walther

Politik

Der Lateinamerika-Experte Ulrich Brand über den "kalten Staatsstreich" in Brasilien und den Rechtsruck in Lateinamerika.


"Wiener Zeitung": Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist vom Senat suspendiert worden. Man wird sehen, ob sie überhaupt ins Amt zurückkehrt. Nach den Olympischen Spielen Ende August wird endgültig über ihre Amtsenthebung entschieden. Wie geht es weiter in Brasilien?Ulrich Brand: Ich gehe davon aus, dass die rechte Interimsregierung unter Michel Temer nicht Neuwahlen riskieren wird und daher die gesamten zweieinhalb Jahre der verbleibenden Legislaturperiode aussitzen wird. Denn wenn es Neuwahlen gäbe, könnte der Kandidat wieder Lula heißen - der noch immer beliebte Ex-Präsident könnte nämlich jetzt wieder bei den Wahlen antreten. Und damit haben die anderen deutlich schlechtere Chancen. Was uns also bevorsteht, ist eine Dauerkrise sowohl politischer als auch ökonomischer Natur. Denn mit der Aufarbeitung des Korruptionsskandals um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras fehlt die Investitionssicherheit bei den Akteuren. Auch die soziale Mobilisierung auf den Straßen wird weitergehen.

Rousseffs Name und ihre Partei sind jetzt mit Korruption verbunden, auch wenn gegen Mitglieder der Arbeiterpartei vergleichsweise wenig Korruptionsverfahren laufen. Auch gegen Rousseff scheint nichts Konkretes vorzuliegen.

Ja, vor drei Wochen haben die Zeugenvernehmungen im Impeachment-Prozess gegen Rousseff begonnen, und es deutet sich immer mehr an, dass sie eben selbst nicht korrupt war. Aber die Arbeiterpartei PT hat an Rückhalt bei den anderen politischen Kräften verloren. Sie war zwar zwölf Jahre lang in der Lage, die Rechte, oder sagen wir allgemeiner, das wirtschaftliche und politische Establishment einzubinden. Das Establishment hatte zwar Lula nicht geliebt, aber sie haben ihn akzeptiert, genauso wie sie die ersten vier Jahre Rousseff akzeptiert haben. Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise und mit dem Beginn der Aufdeckung der Korruption im März 2014 war die Rechte nicht mehr zufriedengestellt. Sie hat den Kompromiss aufgekündigt und im Präsidentschaftswahlkampf im Herbst 2014 mit Aecio Neves einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Die Ansage der Gegenseite war damals schon: Die Präsidentin muss baldmöglichst weg.

In Brasilien gibt es sehr viele im Parlament vertretene Parteien, die meisten davon, wie etwa die Partei des jetzigen Interimspräsidenten Temer, PMDB, haben aber kein erkennbares Profil. Ist die Konturlosigkeit das Erbe der Militärdiktatur oder ist die Suche nach einem Parteiprogramm ein falscher, weil europäischer Maßstab?

Beides. Da ist auf der einen Seite eine politische Kultur, die es auch in anderen Ländern gibt, wo Parteien eher Wahlvereine sind, von Menschen, von Familien und Stimmen viel einfacher politisch gekauft werden können. Andererseits dürfen wir, wie Sie sagen, nicht auf Lateinamerika mit unserer europäischen Sichtweise blicken. Das, was wir von der französischen konstituierenden Nationalversammlung gelernt haben - "hier sitzen die Linken, dort die Rechten, da die Mitte" -, das existiert in Lateinamerika nicht. Dafür gibt es bestimmte populistische Traditionen, die zwar unter einem bestimmten Schlagwort vereint werden, aber in Wahrheit vieles bedeuten können. Nehmen wir den Peronismus in Argentinien - der war immer ein Stück weit opportunistisch. Unter den Kirchners war dieser Peronismus zwischen 2003 und 2015 linksliberal, mit Daniel Scioli, dem unterlegenen Kandidaten aus der Kirchner-Partei bei der letzten Wahl, wäre der Peronismus ab 2016 nach rechts gerückt. Argentiniens Präsident in den 1990er Jahren, Carlos Menem, war Peronist und war ultrarechts. Das sind durchaus unterschiedliche Koordinaten.

Wie ist hier die brasilianische Arbeiterpartei einzuordnen?

Der PT war historisch gesehen die große Ausnahme: Die Partei wurde von Gewerkschaftsmitgliedern, unter anderem von Lula da Silva, gegründet, und hat nach europäischen Kategorien ein sozialdemokratisches Programm. Der PT sagt: Wir wollen umverteilen und die Lebenslage der Bevölkerungsmehrheit verbessern. Um in die Regierung zu kommen, hat sie sich angepasst. Lula hat vor der vierten Präsidentschaftswahl im Jahr 2002 - er ist ja ab 1989 dreimal nicht gewählt worden - und vor der erfolgreichen Wahl seine berühmte "Carta ao Povo Brasileiro", also den Brief ans brasilianische Volk, geschrieben, mit der er den Kompromiss mit den Mächtigen, insbesondere der Agrarbourgeoisie machte.

Kompromisse sind normal. Was hat hier nicht funktioniert?

Bei dem jetzigen Impeachment geht es neben dem Wunsch der alten Eliten, ihre Position zu sichern, auch um Partikularinteressen. Ein wichtiger Grund, warum Rousseff so unter Beschuss kam, war aus meiner Sicht, dass viele der wegen Korruption angeklagten Abgeordneten - wir reden hier von etwa 300 betroffenen Politikern - hoffen, dass mit einem politisch rechtsgerichteten Präsidenten gegen sie nicht weiter ermittelt wird.

Die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens im Mai hat sich über Wochen hingezogen. Als es schließlich so weit war, hat der Präsident des Abgeordnetenhauses, Waldir Maranhao, in einer irrwitzigen Aktion das Verfahren gestoppt und keine 24 Stunden später mit
einer umso haarsträubenderen Erklärung doch durchgewunken.Das zeigt, wie heruntergekommen die jetzige brasilianische Demokratie ist - und wie es um die nackte Haut geht. Maranhao kommt aus einem Bundesstaat, der von einem Gouverneur regiert wird, der dem PT nahesteht. Diese Person hat Maranhao wohl überredet, das Verfahren zu stoppen. Ein paar Stunden später zieht Maranhao das zurück, weil offensichtlich wieder andere Kräfte eingewirkt haben. Es ist das Desaster der Demokratie und des Vertrauensverlustes, dass so ein Politiker Hü und Hott sagen kann. Das ist eine Bankrotterklärung, ein völliges Versagen der politischen Klasse, weil sie sich nur noch in kleinen Spielchen aufhält und überhaupt keinen Plan hat, wie sie das politische System stabilisieren kann. Und das im fünftgrößten Land der Welt!

Wo sind die sozialen Bewegungen, für die Brasilien einst bekannt war?

Die originären starken politischen Bewegungen, die sind geschwächt. Die Landlosen-Bewegung MST hat ihren Deal mit der Arbeiterpartei gemacht. Die Stärke der Landlosenbewegung war ja, über Landbesetzung die ungelöste Landfrage in Brasilien ganz praktisch anzugehen und nicht auf den Staat zu hoffen. Und heute hoffen aber alle nur auf den Staat, der aber in der Dauerkrise ist. Es zeichnet sich aber in den letzten Monaten ein neuer Zyklus von Mobilisierungen ab. Die Sozialwissenschafterin Camila Moreno nennt die jetzige Konstellation ein "interessantes Chaos", weil sich einiges zum Schlimmeren entwickelt, aber auch neue Möglichkeiten eröffnen. Die Regierungsübernahme wird von immer mehr Menschen als "kalter Staatsstreich" bezeichnet.

Ist das, was in Brasilien vor sich geht, die Abwahl einer linken Regierung, wie das gerade in ganz Lateinamerika zu passieren scheint? Oder ist es ein Spezialfall, weil die Arbeiterpartei eben von der Korruption im teilstaatlichen Ölkonzern Petrobras eingeholt wird?

Es gibt meines Erachtens insgesamt die Tendenz eines Rechtsrucks in Lateinamerika. In Argentinien ist es der Wahlsieg des Konservativen Mauricio Macri im November, in Venezuela ist es die vom Bündnis MUD gewonnene Parlamentswahl. Auch wenn Präsident Nicolás Maduro noch ein Chavist ist, ist das venezolanische Parlament deutlich rechts besetzt und der Präsident wird immer hilfloser und agiert immer autoritärer angesichts der Dauerkrise. Für Lateinamerikas Rechtsruck gibt es zwei Hauptgründe. Der eine ist, dass innenpolitisch eine stärkere Umverteilung erwartet wurde. Es hat in den Ländern mit progressiven Regierungen zwar eine staatliche Verteilung von Geldern, die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Ausbau des Bildungssystems gegeben, aber keine grundlegende Umverteilung. Die Oligarchien wurden nicht geschwächt. Die Landreform wurde nicht vorangetrieben. Es ist eine Einkommensverteilung, aber keine Vermögensverteilung vorangetrieben worden. Auch die Korruption wurde nicht angegangen. Da ist der Unmut der Bevölkerung schon ganz berechtigt. Der zweite Grund für den Umbruch ist die von der Linken betriebene Wirtschaftspolitik. Es handelte sich um ein Entwicklungsmodell des Ressourcen-Extraktivismus oder Neo-Extraktivismus: der hohen Abhängigkeit von der Förderung und dem Export von Rohstoffen. Die Regierungen sind in ihrem Wunsch nach Diversifizierung weitgehend gescheitert. Das andauernde Modell des Rohstoffexports hat funktioniert, solange die Weltmarktpreise und die Nachfrage hoch waren. Wenn der Ölpreis von 140 Dollar pro Barrel auf 30 Dollar sinkt, aber ein Staat wie Venezuela zu 95 Prozent am Öltropf hängt, katapultiert das das Land natürlich in den Krisenmodus. Den Ölpreis kann eine Regierung nicht beeinflussen. Aber sie kann dazu beitragen, die eigene Wirtschaft umzubauen.

Aufgrund eines gewissen Gleichklangs linker Regierungen in vielen lateinamerikanischen Ländern sind auf dem Kontinent viele lose zwischenstaatliche Bündnisse wie Unasur und Mercosur gegründet worden. Wie schaut die Zukunft der Binnenintegration aus?

Argentiniens neuer Präsident Macri hat sich ja sofort in der Schuldenfrage mit den USA geeinigt, damit der Zugang zu den internationalen Finanzmärkten geebnet wird. Und Macri will das US-Feindbild Venezuela aus dem Wirtschaftsbündnis Mercosur drängen. Typisch für rechte Regierungen ist, dass sie ein internationalistisches Projekt eher dem Kapital widmen und sich an starken Akteuren wie den USA anlehnen. Macri ist Vorreiter: Argentinien ist sofort mit den Zöllen hinunter gegangen, um die Agrarexporte zu fördern. Die einheimische Industrie ist dann aber stärker der Konkurrenz bei Importen ausgesetzt und hat sich gar nicht anpassen können. In Argentinien sind die Preise für den öffentlichen Nahverkehr seit April verdoppelt worden, die Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst sind geringer als die Inflation, es werden viele Menschen entlassen. Außenpolitisch kommt es zu einer Annäherung an die USA. Die Versuche, dass der lateinamerikanische Subkontinent sich über Binnenintegration weniger vom Weltmarkt abhängig macht, sind bedroht.

Zur Person

Ulrich

Brand

ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und Vorstandsmitglied im Österreichischen Lateinamerika-Institut. Im Mai erschien das von ihm herausgegebene Buch "Lateinamerikas Linke. Ende des progressiven Zyklus?" (Hamburg: VSA-Verlag).