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Abrechnung auf 6000 Seiten

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Chilcot-Report kommt zu harten Schlüssen über die Irak-Invasion 2003.


London. Wird nun Tony Blair als Kriegsverbrecher angeklagt? Verbringt Britanniens Ex-Premierminister den Rest seiner Tage bei Wasser und Brot? Viele Landsleute Blairs, auch tausende seiner Parteigänger haben das ja immer wieder gefordert.

Zahllose britische Filme, Dokumentarstücke, Bücher und Zeitungsberichte der vergangenen Jahre haben entsprechende Szenarien durchgespielt. Auch die Demonstranten, die am Mittwoch noch einmal durchs Londoner Regierungsviertel Whitehall zogen, verlangten lautstark, Blair "und seine Helfer" endlich "in Ketten zu legen". Angehörige der 179 im Irak getöteten britischen Soldaten erwägen, Privatklagen gegen den Ex-Premier zu bringen, um ihn vor Gericht zu sehen. Nicht einmal in Den Haag, beim Internationalen Gerichtshof, hat man weitere "Überlegungen" ganz ausgeschlossen.

Zu danken war die ganze Aufregung einem unscheinbaren, ältlichen Staatsbeamten, der einen zwölf Bände umfassenden Report zu einem Ereignis zusammengestellt hatte, das etliche Jahre zurücklag.

Risiken seien Blair "im Einzelnen" dargelegt worden

Sir John Chilcot veröffentlichte seinen lang erwarteten Report zur Irak-Invasion: Und es war kein zahmes Berichtlein, wie es viele Beobachter in London erwartet hatten. Den Bericht hatte im Jahr 2009 der damalige Premierminister Gordon Brown in Auftrag gegeben. Der 6000-seitige Report sollte die Hintergründe der britischen Beteiligung am Irakkrieg unter Blair erhellen - und endlich Antwort geben auf eine Reihe bisher ungeklärter Fragen.

Damit versetzte Chilcot die Briten in die Zeit zu Anfang des Jahrhunderts zurück, in der, nach dem 9/11-Anschlag auf die beiden World-Trade-Centre-Türme in New York, US-Präsident George W. Bush und sein engster Verbündeter in London Aktionen gegen den Irak vorbereiteten.

Blair war im März 2003 an der Seite Bushs mit dem Argument in den Krieg gezogen, der irakische Diktator Saddam Hussein verfüge über "Massenvernichtungswaffen", die "binnen 45 Minuten" eingesetzt werden könnten. Der Brite hatte sich in den achtzehn Monaten vorab mehrfach mit Bush getroffen, hatte aber später abgestritten, dass er Bush damals bereits militärischen Beistand für eine Irak-Invasion zugesichert hatte - ohne sein Kabinett, das Parlament und die britische Bevölkerung davon wissen zu lassen. Er habe, beteuerte Blair immer, "nach bester Überzeugung" gehandelt und nur "die Interessen unseres Landes" im Sinn gehabt.

Das aber war nicht der Schluss, zu dem John Chilcot gelangte. Chilcot hielt in seinem Bericht dem Ex-Premier vor, dass dieser ohne Not in einen verheerenden Krieg gezogen sei. Blair habe sein Kabinett nicht ausreichend informiert, beim Verweis auf Geheimdienst-Informationen die Gefahrenlage bewusst übertrieben, vom Kronanwalt keine schriftliche Stellungnahme zur Rechtssituation verlangt und dem Parlament eine Gewissheit vorgespielt, die es nie gab.

Der damalige Premier habe seinen Einfluss auf den US-Präsidenten sträflich überschätzt, die Autorität der Vereinten Nationen untergraben und britischen Truppen eine Besatzerrolle zugewiesen, der sie nicht gewachsen waren. Am Ende habe das Unternehmen zum Tod "von mindestens 150.000 Irakis, die meisten davon Zivilisten", und zur Entwurzelung von einer Million Menschen geführt.

Vor allem, erklärte Chilcot, sei Blairs Behauptung nicht ernst zu nehmen, Blair habe nicht wissen können, wohin die Sache führen könne. In Wirklichkeit sei Blair vorab gewarnt worden, dass es zum Bürgerkrieg im Irak und zu zusätzlichen Unruhen im Nahen Osten kommen könne und dass eine Invasion gefährliche Reaktionen aufrühren würde: "Die Risiken innerer Unruhen im Irak, einer Einschaltung Irans, regionaler Instabilität und der Zunahme von al-Qaida-Aktivitäten im Irak" seien dem Premierminister vor der Invasion "im Einzelnen" dargelegt worden.

Auch andere Politiker, darunter den damaligen Außenminister Jack Straw sowie mehrere Geheimdienstchefs und hohe Militärs, nahm sich Chilcot vor. Alle Fäden aber liefen immer wieder zu Blair zurück. Noch nie, fanden britische Beobachter, sei ein britischer Regierungschef auf so dramatische Weise von offizieller Warte abgeurteilt wurde.

Blair sieht eigene "Fehler", aber keine "Täuschung"

Blair selbst, offenkundig überrascht von der Härte der Vorwürfe und ungewöhnlich nervös, suchte sich noch am gleichen Tag zu verteidigen. Eine gewisse Kritik, was Prozeduren angehe, akzeptiere er, sagte der Ex-Premier. "Massenvernichtungswaffen" und eine unmittelbare Bedrohung des Westens durch Saddam habe es nicht gegeben. "Fehler" habe er, Blair, seinerzeit gemacht - aber er habe das Land "nicht getäuscht".

Generell zeigte sich der Kriegsherr von 2003 unwillens, sich die Schuld für das Elend und die Opfer des Irakkriegs aufbürden zu lassen. Hätte man sich Saddam Husseins damals nicht entledigt, hätte man es später machen müssen, meinte Blair. Er glaube noch immer, dass er "die richtige Entscheidung" getroffen habe und dass "die Welt sicherer" sei nach seinen Aktionen. Mit dem heutigen Terror habe das alles wenig zu tun: Islamistischer Extremismus sei "ein globales Problem".

Blairs Kritiker mochten das, nach Chilcots Report, nicht mehr hören. Ihren Zorn erregte vor allem eine Notiz, die Blair Bush im Juli 2002 übermittelte: "I will be with you whatever" (Ich steh zu dir, was auch immer passiert). Im September desselben Jahres präsentierte der Brite seinem Parlament das umstrittene Geheimdienst-Dossier mit den "Massenvernichtungswaffen", das laut Chilcot "das Vertrauen in Regierungs-Statements auf lange Zeit hin untergrub".

Der Ex-Premier habe, hinter den Kulissen, zum Krieg gedrängt, als kein Krieg erforderlich war, ist das Fazit des Chilcot-Reports. Blair streitet das ab. Sein Labour-Nachfolger Jeremy Corbyn, ein leidenschaftlicher Irakkriegs-Gegner, erklärte am Mittwoch bitter, Blair habe das Parlament "getäuscht", und die Abgeordneten müssten daraus "Konsequenzen" ziehen.

Juristen schlossen eine Strafverfolgung Blairs nicht aus, hielten sie aber für unwahrscheinlich, weil sich die Gerichte scheuen würden, einen ehemaligen Premierminister "wegen politischer Entscheidungen" zur Verantwortung zu ziehen.

(pn) Sieben Jahre lang ist an diesem Report gearbeitet worden. Im Jahr 2009, als die britischen Truppen den Irak verließen, ordnete der damalige Labour-Premier Gordon Brown ihn an. Brown beauftragte einen wenig bekannten, pensionierten Staatsbeamten namens Sir John Chilcot mit der gründlichen Durchleuchtung der Umstände, die im Jahr 2003 zum Irakkrieg führten. Chilcot sollte zugleich herausfinden, ob für die Kriegführung und für die Zeit der Besetzung Iraks von Politikern und Militärs in London ausreichende Planung geleistet worden war.
Chilcot, ein zurückhaltender Mensch, war zur Zeit der Übernahme dieses Auftrags 70-jährig. Er hatte unter anderem auf hohen administrativen Posten in Nordirland und im Innenministerium und für die britischen Geheimdienste gearbeitet. Als er von Brown mit seinem Bericht beauftragt wurde, bemängelten Kritiker, dass er allzu sehr "dem Establishment" angehöre. Chilcot aber setzte gegenüber Brown durch, dass seine Anhörungen nicht "im stillen Kämmerlein", sondern öffentlich durchgeführt würden.
In den Jahren vor 2009 hatte es schon mehrere Untersuchungen einzelner Aspekte des Irakkriegs gegeben - darunter den sogenannten "Butler Report", an dem Chilcot beteiligt war. Chilcots Auftrag lautete, die gesamte Zeit von 2001 bis 2009 in Augenschein zu nehmen. Er versprach, in seinem Report "auch Kritik nicht auszusparen".
In seine Untersuchungs-Kommission nahm er einen Militärhistoriker, einen Diplomaten und eine Sozialreformerin auf. Kritisiert wurde er dafür, keine Anwälte einbezogen zu haben. Aber Chilcot erklärte, es gehe ihm nicht darum, die Illegalität der britischen Beteiligung am Irak-Invasion nachzuweisen, sondern "Lehren zu ziehen" aus den Ereignissen jener Jahre.
2009, als sich der Chilcot-Ausschuss konstituierte, schätzte Premier Brown, dass es bis zur Fertigstellung des Reports "ein Jahr dauern" würde. Zehn Millionen Pfund kostete der Report.