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"Sie haben uns im Stich gelassen"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Neun Jahre nach Abzug der britischen Truppen befindet sich der Irak immer noch in Ausnahmezustand. | "Erst haben die Briten alles aufgemischt, dann sind sie abgehauen."


Bagdad/Basra. "Endlich dürfen wir wieder essen", sagt eine Frau auf dem Weg zum Gemüsemarkt, "was scheren mich da die Briten." Es ist der zweite Tag des islamischen Eid al-Fitr, dem sogenannten Zuckerfest, das den Fastenmonat Ramadan beendet.

In diesem Jahr war es besonders hart, in der Gluthitze Iraks zu fasten, nichts zu essen und zu trinken, solange es Tag ist. Der Sommer setzte früher ein als gewohnt, mit Temperaturen über 40 Grad. Suhaila geht an einem Eiscafé im Bagdader Bezirk Mansour vorbei und bestellt sich gleich fünf Kugeln auf einmal. "Einen was soll es geben?", fragt sie nochmals nach, einen Bericht über die Invasion der Briten im Irak 2003? Die Leute hier in Bagdad hätten derzeit andere Sorgen. "Dort drüben zählen sie noch immer die Toten", kommentiert Suhaila und zeigt auf die gegenüberliegende Seite des Tigrisufers, wo in Karrada am Sonntag der verheerende Bombenanschlag mittlerweile 250 Tote forderte. Seit fast neun Jahren sind die Briten aus dem Irak wieder weg, Ende 2009 war der Rückzug der Truppen abgeschlossen, zwei Jahre früher als bei den Amerikanern. "Das ist eine Ewigkeit für irakische Verhältnisse."

Sechs Jahre unter den Briten

Britische Truppen waren Teil der internationalen Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten, die im März 2003 im Irak einmarschierten. Die Militäraktion führte zum Sturz Saddam Husseins, der das Land seit Ende der 1970er Jahre diktatorisch regierte. Von Anfang an war die Rolle Großbritanniens, das nach den Amerikanern das größte Truppenkontingent stellte, heftig umstritten. Über den damaligen britischen Premier Tony Blair witzelten auch die Iraker als einen wedelnden Schwanz am Hund des "Rudelführers" George W. Bush, dem damaligen US-Präsidenten. Die Südprovinzen Iraks mit der damals drittgrößten Stadt des Landes, Basra, kamen unter britische Kontrolle. Bagdad und den Norden Iraks kontrollierten die Amerikaner.

Insgesamt 179 britische Soldaten haben in den sechs Jahren der Besatzung ihr Leben gelassen. Wie viele Iraker im Widerstand gegen ihre Besatzer umkamen, ist nicht klar. Zahlen zwischen 200.000 und einer Million kursieren. Die US-Administration gab lediglich die Opferzahlen aus ihren Reihen bekannt. In Basra hört man indes andere Töne. Die Briten seien zu früh abgezogen, sagen einige, vor allem junge Leute hinter vorgehaltener Hand, hätten die Stadt und die Menschen dem Einfluss Irans überlassen. Der derzeitige Kampf diverser Schiitenmilizen um die Vorherrschaft über die seit dem Terror des sogenannten Islamischen Staates (IS) jetzt zweitgrößte Stadt Iraks, sei auch eine Folge verfehlter britischer Politik.

Schon damals, vor neun Jahren, hatte US-Oberst Peter Mansoor den Rückzug der Briten aus Basra als eine Niederlage bezeichnet. Der britische "Telegraph" titelte: "Nicht unsere beste Stunde!", und sprach von dubiosen Deals der Militärführung mit den Aufständischen. Basra wäre in einer verzweifelten Notlage, so Mansoor, der in Bagdad mit General David Petraeus zusammenarbeitete. Und tatsächlich: Nachdem die Briten sich auf ihren Stützpunkt am Flughafen zurückgezogen hatten, rückte der damalige irakische Premier Nuri al-Maliki mit der Armee in die Stadt ein, um die Miliz des mit ihm rivalisierenden Schiitenführers Moktada al-Sadr zu bekämpfen. Blutige Gefechte waren die Folge. Schließlich griffen Amerikaner und Briten ein und entschieden zugunsten der Regierungstruppen. Doch der politische Konflikt ist bis heute nicht beigelegt, die Wunden von damals sind nicht verheilt. Zwar gelingt es der sunnitischen Terrormiliz IS trotz unzähliger Versuche nicht, im schiitisch geprägten Basra Fuß zu fassen, doch Kriminalität und Korruption grassieren wie nirgendwo sonst im Irak. Inzwischen wollen viele Einwohner Basras und mittlerweile auch die Verantwortlichen in Stadt- und Provinzrat eine Loslösung von Bagdad und volle Autonomie für die Region im Süden.

Dem Iran ausgeliefert

"Die Briten sind gegangen, ohne etwas zurückzulassen", klagt Hatam al-Bachary, Chef der irakisch-britischen Handelskammer in Basra. Sie hätten sich erhofft, dass zumindest zivile britische Organisationen in der Stadt blieben. "Aber alles, alles ist mit den Truppen weg". Es gäbe keine britischen Investitionen, kein Konsulat, kaum Handelsbeziehungen. Sie seien gänzlich dem Einfluss Irans ausgeliefert worden. Das macht sich auch im Straßenbild Basras bemerkbar. Als die Briten das Sagen hatten, sah man viele Frauen unverschleiert oder nur mit einem lockeren Schal auf dem Kopf. Jetzt tragen nahezu alle Frauen schwarze Abbajas, lange Mäntel mit einem alle Haare verdeckenden schwarzen Schleier. Sogar die Vollverschleierung nimmt zu.

Von den Briten im Stich gelassen, fühlt sich auch Kasim Mohammed al-Fayad, Mitglied der Industrie und Handelskammer in Basra. "Schauen Sie sich doch
einmal auf den Märkten und in
den Geschäften um", rät er. "Alles Waren aus dem Iran, wir haben keine Balance in unserem An-
gebot." Andere gehen noch einen Schritt weiter und sagen: "Erst haben die Briten hier alles aufgemischt, dann sind sie abgehauen." Zitiert werden wollen sie mit
dem Satz aber nicht. Die Angst vor den "iranischen Ohren" in der Stadt ist zu groß.