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Flucht vor den Befreiern

Von Siobhán Geets aus Erbil

Politik

Die Anti-IS-Militärkoalition rückt auf die irakische Stadt Mossul vor.


Erbil. Ein Bub lugt hinter dem Vorgang einer Hütte hervor und beobachtet den Tumult, der sich ringsum abspielt: Dutzende Soldaten umschwirren die Männer in dunklen Anzügen, die eben aus den schwarzen Jeeps gestiegen sind. In ihrer Mitte: Außenminister Sebastian Kurz. Bald trauen sich auch die Kinder auf die staubige Gasse. Die Erwachsenen werden angehalten, in ihren Häusern zu bleiben. Camp Debaga, 54 Kilometer südwestlich von Erbil, liegt inmitten der staubigen, trockenen Landschaft, die die Hauptstadt der nordirakischen Kurdenregion umgibt. Mehr als 19.000 Flüchtlinge leben hier in kleinen Betonhäusern. Das Camp liegt in einer unruhigen Region: Gerade einmal 15 Kilometer entfernt kämpft die US-geführte Militärkoalition aus irakischer Armee, kurdischen Peschmerga und verbündeten Milizen mit dem selbst ernannten Islamischen Staat (IS).

Der IS ist seit einigen Monaten in der Defensive: Im Irak verlor die Terrormiliz in den vergangenen Wochen eine Stadt nach der anderen. Als nächstes soll die Großstadt Mossul befreit werden. Doch je näher die Soldaten am Tigris entlang Richtung Norden vorrücken, desto mehr Menschen fliehen aus dem Gebiet. Die meisten Bewohner sind arabische Sunniten, viele haben Angst vor der Rache der Eroberer. Weil in den vergangenen Wochen mehr Vertriebene ankamen als erwartet, ist im Camp Debaga mittlerweile alles knapp: Wasser, Nahrung, Medikamente. Bei einer Offensive auf Mossul werden noch einmal bis zu eine Million Vertriebene erwartet. Derzeit habe man gerade einmal Nahrung für die kommenden drei, vier Tage, heißt es vonseiten der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Es drohe eine humanitäre Katastrophe. "Allein für den Anfang der nächsten Fluchtwelle brauchen wir mehrere zehntausend Dollar", sagt Sandra Black von der IOM. Ihre größte Sorge, so die US-Amerikanerin, sei die Wasserversorgung.

"Österreich istein Freund der Kurden"

Die Kurdische Region hat fast zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien aufgenommen - gemessen an der Einwohnerzahl von rund 5,5 Millionen ist das mehr als jede andere Region. Immer weniger Menschen verlassen den Irak, um über die Türkei in die Europäische Union zu gelangen. Mehr als 85.000 waren es 2015, rund 24.000 machten sich heuer bisher auf den Weg. Die IOM verbreitet über ihre Social-Media-Kanäle Videos von Rückkehrern, herzzerreißende Geschichten, die von der strapaziösen Flucht erzählen, vom Verlust der Familie, aller Ersparnisse. Häufig haben die Menschen alles verkauft, um Schlepper zu bezahlen. Zurück im Irak ist ein Neuanfang schwierig. "Wir bieten den Menschen Reintegrationspakete", erklärt Black, "geben ihnen Bildungsgutscheine und helfen ihnen bei der Job- und Wohnungssuche, damit sie wieder Fuß fassen können".

Auch Außenminister Sebastian Kurz, der Ende vergangener Woche nach Erbil reiste, will in Wiederansiedlungsprojekte investieren. "Österreich ist ein Freund der Kurden", stellte er vor Falah Mustafa Bakir klar, seinem Amtskollegen in der kurdischen Region im Irak. Als "Zeichen der Solidarität gegenüber jenen, die gegen den IS kämpfen" versprach Kurz zwei Millionen Euro für Wiederansiedlungsprogramme und humanitäre Hilfe in den befreiten Gebieten: "Wir müssen gemeinsam gegen diese Barbaren vorgehen. Gegenüber Terror gibt es keine Neutralität."

In der sengenden Hitze und begleitet von Dutzenden Medienleuten, Soldaten und Diplomaten wird Österreichs Chefdiplomat durch das Camp geführt. Der 50-jährige Ali Achmet Ali öffnet den Vorhang zu seiner Hütte, um die Delegation hereinzubitten. "Mein ganzes Dorf ist von den Terroristen geflohen", erzählt der siebenfache Vater. "Natürlich wollen wir zurück, aber der IS hat mein Haus zerstört."

Ob es im Dorf auch Unterstützer des Daesh (arabisches Akronym für "Islamischer Staat im Irak und der Levante") gebe, fragt Kurz. "Ja, einige arbeiten mit ihnen zusammen. Aber unsere Stämme nicht", antwortet der Sunnit, der immer wieder seine Dankbarkeit gegenüber Kurdistan betont. "Überlegen Sie, in die Türkei oder die EU zu fliehen?", fragt Kurz. Die erhoffte Antwort lässt nicht auf sich warten: "Nein. Wir leben im Irak und wir sterben im Irak." Ob er immer schon gewusst habe, dass die Kurden so freundlich sind, scherzt Kurz. Die Alten wüssten das, antwortet Ali, die Jüngeren nicht.

Tatsächlich fürchten sich die verbliebenen Sunniten in den IS-Gebieten vor dem Einmarsch der Alliierten - und vor der Rache der Vertriebenen. Mossul, einst multiethnischer Schmelztiegel und Heimat von Arabern und Kurden, Assyrern und Muslimen, Christen und Jesiden, ist eine mehrheitlich sunnitische Stadt geworden. Als der IS Mossul im Sommer 2014 während der Proteste sunnitischer Einwohner gegen die Regierung in Bagdad quasi von innen heraus übernahm, erhielten die Dschihadisten Rückhalt von einem Teil der Bevölkerung. Die Politik der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad, die Sunniten immer mehr an den Rand drängte, hatte wesentlich zu deren Radikalisierung beigetragen. Heute sind die religiösen Minderheiten vertrieben - oder ermordet. Nur sunnitische Araber blieben. Doch unter jenen, die die Stadt zurückerobern wollen, sind arabische Sunniten die Minderheit: Die irakische Armee besteht mehrheitlich aus Schiiten - und die kurdischen Peschmerga sind zwar Sunniten, aber keine Araber.

Mit Mossul soll nun also die zweitgrößte Stadt des Irak aus den Händen des IS befreit werden. Gelingt das, hat der IS alle Großstädte im Land verloren. Doch was geschieht danach? Verschiedene Gruppen streiten seit langem um die Vormacht in der Region. Die Kurden, die mit den Peschmerga die größte Gruppe an Kämpfern stellen, verlangen eine Angliederung von Teilen Mossuls und der umliegenden, umstrittenen Gebiete an ihre autonome Region. Dagegen haben vor allem sunnitische Stämme etwas einzuwenden. Das Gebiet um die Stadt ist reich an Öl. Das ist auch die autonome Region Kurdistan - zahlreiche Unternehmen aus dem Ausland sind vertreten, auch die OMV führt ein Feld bei Erbil. Doch die schlechte Sicherheitslage und der Ölpreisverfall schaden der Wirtschaft und zwingen die Regierung zu Sparmaßnahmen. Auch deshalb ist die Eroberung Mossuls entscheidend: "Sie könnte sich auch wirtschaftlich als sehr positiv erweisen", sagt Außenminister Kurz.

"Wir brauchen einen politischen Plan"

Noch gibt es Vereinbarungen zwischen Kurden und irakischer Armee über das gemeinsame Vorgehen im Kampf gegen den IS. Das einigende Element ist stark, der gemeinsame Feind verbindet. Militärisch werde der IS bald besiegt sein, doch müsse man auch die Ideologie bekämpfen, sagt Außenbeauftragter Bakir: "Sie haben Kinder rekrutiert, ihre Ansichten verbreitet. Wir müssen durch Dialog und Bildung gegenarbeiten."

Die Frage ist nun, inwieweit Kurden, Schiiten und arabische Sunniten bereit sind zu verhandeln, was die umstrittenen Gebiete betrifft. "Wir brauchen einen politischen Plan für die Zeit danach", mahnt Bakir. Der irakische Kurde gibt sich zwar verhandlungsbereit, wenn er sagt, dass man zusammenarbeiten müsse. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die kurdische Regionalregierung ihre Ansprüche auf die umstrittenen Gebiete zurückschrauben wird. Zudem ist es den Kurden durch den Machtverlust Bagdads seit dem Ausbruch der Irakkrise 2014 gelungen, von ihnen beanspruchte Gebiete vom IS zurückzuerobern und unter ihre Kontrolle zu stellen. Nun steht sogar ein Referendum über die Unabhängigkeit Kurdistans im Raum.

Die Regierung der autonomen Region Kurdistan würde jedenfalls für die Sicherheit der verbliebenen Bewohner von Mossul garantieren, betont Bakir. Es bleibt abzuwarten, ob es dabei gelingt, die sunnitischen Stämme ins Boot zu holen - oder ob der Wegfall des gemeinsamen Feindes IS zu erneuten Kämpfen um die Vormacht in der Region führen wird.