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Leben retten unter Lebensgefahr

Von WZ-Korrespondent Philipp Hedemann

Politik

Menschen in Not zu helfen wird immer gefährlicher. Alleine 2014 wurden 120 Entwicklungshelfer getötet.


Bangui. Georg Dörken hat nur Sekunden Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, die über Leben und Tod entscheidet. Soll der Fahrer Gas geben? Soll er anhalten? Dörken ruft: "Stopp!" Die beiden Geländewagen der Welthungerhilfe kommen neben zwei blutüberströmten Männern zum Stehen. Der eine hat den anderen mit seinem Motorrad erfasst, als er über die Straße gehen wollte. Mittlerweile hat sich eine schreiende und weinende Menschenmenge um die beiden Schwerverletzten gebildet. Eine Notrufnummer gibt es in der Zentralafrikanischen Republik nicht, außerhalb der Hauptstadt Bangui nur wenige Krankenwagen. Dörken weiß das. Er ist seit knapp zwei Jahren Landesdirektor der Welthungerhilfe in der Zentralafrikanischen Republik. Vorsichtig lässt er die beiden stöhnenden Männer einladen. Dann gibt der Fahrer Gas.

"Wären wir vorbeigefahren, wären sie auf der Straße verblutet. Sterben sie auf dem Weg zum Krankenhaus in unseren Autos, machen die Angehörigen uns möglicherweise für ihren Tod verantwortlich. Das kann für meine Mitarbeiter und mich gefährlich werden. Aber ich kann sie doch nicht einfach liegenlassen", sagt Dörken. Eine halbe Stunde später erreichen die Welthungerhilfe-Autos ein Krankenhaus in Bangui. Die beiden Verletzten leben.

"Ich bin kein Adrenalinjunkie"

Georg Dörken ist es gewohnt, in gefährlichen Situationen schnell zu entscheiden. Seit 22 Jahren arbeitet er in Kriegs- und Krisengebieten Afrikas. "Ich bin kein Adrenalinjunkie, aber wer sich für die humanitäre Hilfe entscheidet, muss bereit sein, gewisse Risiken auf sich nehmen", sagt er. Dörken weiß, wovon er spricht. Er wurde schon von Kindersoldaten bedroht, von Rebellen beschossen und wäre beinahe auf eine Panzerabwehrmine gefahren. Mehrfach wurde das Büro der Welthungerhilfe in Bangui angegriffen, Kollegen von schwerbewaffneten Banditen überfallen, Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen sogar getötet.

Dörken hat gelernt, mit der Gefahr klarzukommen. Während des Genozids in Ruanda lebt er mit seiner Frau Barbara, seiner Tochter Djeneba und seinem Sohn Malik im Ostkongo. Um die Schreie der Sterbenden aus dem angrenzenden Ruanda nicht zu hören, müssen die Dörkens manchmal ihre Stereoanlage ganz aufdrehen. Im See treiben Leichen, Verwesungsgestank liegt in der Luft.

Nachdem sie im Ostkongo zwei Tage unter Artilleriebeschuss ausgeharrt haben, gelingt es Dörken, seine Familie ausfliegen zu lassen. Er selbst bleibt in Bukavu, verlässt die umkämpfte Stadt erst mit der letzten Maschine, bevor sie erobert wird. Vier Mal musste er bislang für seine Mitarbeiter und sich Evakuierungen organisieren. "Normalerweise retten die ausländischen Mitarbeiter nur ihren eigenen Arsch und lassen die einheimischen Kollegen zurück. Ich habe das selbst miterlebt und kam mir vor wie der letzte Dreck", erzählt Dörken. Bei seiner vorerst letzten Evakuierung sorgte er dafür, dass auch alle lokalen Mitarbeiter und ihre Familien in Sicherheit gebracht wurden.

Denn meist sind es lokale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die im Einsatz verletzt oder getötet werden. Alleine im Jahr 2014 (aktuellere Zahlen liegen nicht vor) wurden laut der britischen Forschungs- und Beratungsgruppe Humanitarian Outcomes 120 Entwicklungshelfer getötet, 88 verletzt und 121 entführt. Insgesamt gab es in 27 Ländern 190 größere Zwischenfälle, von denen 329 Helfer betroffen waren. Die meisten tödlichen Zwischenfälle gab es in Afghanistan, Syrien, im Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik und in Pakistan.

Gedenken an getötete Helfer

Nachdem am 19. August 2003, 22 UN-Mitarbeiter bei einem Bombenanschlag auf das Hauptquartier der Vereinten Nationen in Bagdad ums Leben kamen, rief die UNO-Generalversammlung 2008 den 19. August zum Welttag der humanitären Hilfe aus. Der Gedenktag ist Menschen gewidmet, die während ihres Engagements ihr Leben verloren.

130 Millionen Menschen sind derzeit laut Vereinten Nationen auf humanitäre Hilfe angewiesen - so viele wie nie zuvor. Entsprechend viele Helfer sind im Einsatz. Viele von ihnen arbeiten in Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan. Dort ereignete sich am 3. Oktober 2015 einer der schwerwiegendsten Vorfälle der letzten Jahre. In der Nacht bombardierte ein Flugzeug der US-Luftwaffe ein "Ärzte ohne Grenzen"-Krankenhaus in Kundus. Bei dem Angriff starben 30 Menschen, darunter 13 Angestellte der Hilfsorganisation. Die US-Armee räumte später ein, dass Einsatzregeln nicht eingehalten wurden, mehrere US-Soldaten wurden suspendiert. "Das Bombardement war eine schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts", sagte Florian Westphal, Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen Deutschland", nach dem Luftangriff. Er forderte auch im Krieg die Einhaltung von Regeln, die Zivilisten schützen und humanitären Helfern ihre Arbeit ermöglichen sollen.

Die getöteten "Ärzte ohne Grenzen"-Mitarbeiter hatten sich freiwillig in den gefährlichen Norden Afghanistans begeben, um - trotz der erheblichen Risiken - Menschen in Not zu helfen. Auch Georg Dörken hätte kein Leben in Bürgerkriegsländern führen müssen, hätte Jobs in weniger gefährlichen Ländern oder in der Welthungerhilfe-Zentrale in Bonn annehmen können. Er entschied sich dagegen. "Ich bin Überzeugungstäter und Gerechtigkeitsfanatiker. Es mag naiv klingen, aber ich möchte mit meiner Arbeit helfen, die Welt ein kleines Bisschen besser zu machen", erzählt der 63-Jährige in seinem spartanisch eingerichteten, stickigen Zimmer in Bangui, während ein tropischer Gewitterschauer aufs Wellblechdach trommelt. Dabei muss der Idealist auch immer wieder Rückschläge hinnehmen. Dörken: "Wenn man in Kriegs- und Krisengebieten arbeitet, muss man damit rechnen, dass das, was man aufgebaut hat, wieder zerstört werden kann. Aber das kann doch kein Argument dafür sein, dass wir Menschen in schwierigen Situationen alleine lassen."