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Feuerring an Europas Peripherie

Von Thomas Seifert

Politik

Was tun, wenn Krisen keine Ausnahmen, sondern die neue Normalität sind? Antworten beim Salzburger Trilog.


Salzburg. "Wir leben in einem Zeitalter der Instabilität", sagt Demetrios G. Papademetriou, Vordenker des Migration Policy Institute in Washington, DC. "Krisen sind keine Ausnahme mehr, Krisen sind die neue Normalität, das wird uns langsam allen klar." Vertrauen sei nun ein seltenes, kostbares Gut geworden, Vertrauen der Bürger zueinander, Vertrauen unter politischen Parteien - die Schwierigkeiten, Koalitionsregierungen in Irland, Belgien oder Spanien zu bilden, sind Beispiele dafür. Schließlich sei der Bevölkerung das Vertrauen zu den Eliten abhandengekommen, das habe der Brexit gezeigt, wo die Brexiteers sagten, das Volk habe "genug von den Experten". Und schließlich ist das Vertrauensniveau der Regierungen untereinander auf einem Tiefstand.

Instabilität, Putsch, Krieg, Krise. Die Zeiten waren tatsächlich schon mal besser.

Unter diesen Voraussetzungen treffen sich heuer beim alljährlich von der Denkfabrik Bertelsmann-Stiftung organisierten Salzburger Trilog rund 30 Expertinnen und Experten sowie Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur zum Gedankenaustausch.

Das Thema 2016: die Polykrise, der Europa sich gegenüber sieht. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass sich ein "Feuerring", ein "Ring of Fire" entlang der Peripherie Europas zieht, von der Ukraine, dem Kaukasus über den Nahen Osten und Nordafrika. Laut dem Bertelsmann Transformations-Index verschlechtert sich die Lage vor allem im Mittleren Osten, Nordafrika und Asien, wohingegen der amerikanische Doppelkontinent verhältnismäßig stabil und gefestigt ist, mit Ausnahme von Venezuela.

Vom liberalen zum autoritären Traum

Im Hintergrundpapier der Bertelsmann-Stiftung zum Trilog 2016 wird auch daran erinnert, dass Krisen die gefährliche Eigenschaft haben, zu metastasieren: "Wenn eine Krise in einem Nachbarstaat besteht, ist das Risiko sehr hoch, dass es zu einer Art Kettenreaktion kommt, sei es in Form von Flüchtlingsbewegungen, der Notwendigkeit humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe oder sogar eines bewaffneten Konflikts." Was 2002 vom damaligen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi als "Ring of Friends" rund um Europa angedacht war, habe sich zu einem "Feuerring", einem "Ring of Fire" entwickelt - mit folgenschweren Konsequenzen für die EU im Hinblick auf Migration und Terrorismus. Doch was sagte Prodi 2002? "Ich möchte einen Ring der Freundschaft die Union und ihre engsten europäischen Nachbarn umfassen sehen, von Marokko bis Russland und die Schwarzmeer-Region. (...) Wir müssen bereit sein, mehr als eine Partnerschaft anzubieten und weniger als eine Mitgliedschaft, ohne freilich Letzteres auszuschließen."

Und was ist aus Prodis Traum von 2002 geworden? In 12 von 16 Ländern der Europäischen Nachbarschaftspolitik bestehen eingefrorene Konflikte, Bürgerkriege, Gebietsbesetzungen oder zwischenstaatliche Kriege, schreiben die Autoren des Bertelsmann-Hintergrundpapiers.

Heute mache der "liberale Traum", der offenen Gesellschaft, Migration, Globalisierung und Freihandel mehr und mehr dem "autoritären Traum", mit dem Sinn für Heimat und Identität Platz. Der "autoritäre Traum" beschwört nationalen Stolz und enthält Schwärmerei von den "goldenen Zeiten" von früher, der starke Identitätsfokus jener, die den "autoritären Traum" träumen, impliziere, dass Migration keine Vorteile bringen könne, da diese die Zusammensetzung einer Gesellschaft verändert und Einflussnahme auf Kultur und Tradition mit sich bringt, heißt es im Hintergrundpapier.

Interessant übrigens, dass die Autoren des Hintergrundpapiers in dem Zusammenhang den Begriff der "illiberalen Demokratie" vermeiden, der derzeit Konjunktur hat. Der Politikwissenschafter Jan-Werner Müller setzt sich im aktuellen Debatten-Journal des "Instituts für die Wissenschaften vom Menschen", "Transit", mit dem Begriff auseinander: "Wer von ‚illiberaler Demokratie‘ spricht, belässt Regierungen wie denen von Jarosaw Kaczynski und Viktor Orbán die Möglichkeit zu behaupten, ihre Länder seien nach wie vor Demokratien, nur eben keine liberalen. Beobachter von außen sollten sich unmissverständlich darüber im Klaren sein, dass hier die Demokratie als solche Schaden nimmt." Folgt man der Argumentation Müllers, dann versteht es sich von selbst, dass das Etikett "illiberale Demokratie" für Länder wie Russland oder die derzeitige Türkei völlig deplatziert ist. Zu dieser Schwächung europäischer Werte kommen die vielfältigen Sicherheitsherausforderungen an der europäischen Peripherie, von denen derzeit jene des Nahen Ostens am unlösbarsten erscheinen.

Europas gefährliche Nachbarn in Nahost

Seán Cleary, Vorsitzender des Consulting-Unternehmens Strategic Concepts mit Sitz in Kapstadt (Südafrika), mahnt, die heutigen Entwicklungen im Nahen Osten nicht im Licht der Ereignisgeschichte zu betrachten. "Das Chaos dort ist das Produkt einer langen Geschichte. Die Nationenbildung nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches war schwach, also bildeten sich starke subnationale Identitäten aus, die mit der nationalen Identität im Konflikt lagen." Schwache, ineffiziente und korrupte Staatsbürokratien waren nicht eben dazu angetan, das Vertrauen der Menschen in die Nationen, deren Staatsbürger sie waren, zu stärken. Als dann die Führungsfiguren - etwa im Irak oder Libyen - von der Macht entfernt wurden, fielen die Iraker oder Libyer wieder in althergebrachte Identitäten zurück: in den Glauben oder die angestammten Clanstrukturen.

Jana Jabbour, Professorin an der renommierten Sciences Po in Paris, konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Rolle der Türkei: "Was Erdogan betreibt, ist nichts anderes als Bakschisch-Diplomatie. Mit dem Flüchtlingsdeal wollte Erdogan die Lastenteilung in der Flüchtlingsfrage nutzen, um andererseits mehr politischen Einfluss zu bekommen. Europa hat ihm ein schönes Trinkgeld - Bakschisch - versprochen, aber dann ist dieses Trinkgeld doch recht mager ausgefallen. Und jetzt hat die EU in den Augen der türkischen Führung ein Glaubwürdigkeitsproblem." Yumna Naufal, Journalistin bei Future Television, Beirut, bringt den Libanon, nach der Türkei das Land, das den meisten Syrien-Kriegsflüchtlingen Schutz geboten hat, ins Spiel: "Es gibt in unserem Land dieses Sprichwort: Der Libanon ist wie ein Fußballplatz, wo jeder spielen darf, außer die Libanesen. Die Erinnerung an die eigene tragische Geschichte ist im Libanon noch immer lebendig. Die Erinnerung an die Tragödie in den palästinensischen Flüchtlingslagern in den 1980er Jahren." Die soziodemografische Struktur des Libanon werde sich durch die Flüchtlingstragödie, die sich seit 2011 zuträgt, massiv verändern, sagt Naufal. Und sie nimmt auch Bezug auf die Vorredner, die den allgemeinen Vertrauensverlust thematisiert haben. Dieser sei in der Levante besonders spürbar: "Wo es kein Vertrauen gibt, dort gibt es auch keine Zuversicht. Und wo es keine Zuversicht gibt, dort gibt es auch keine Hoffnung. Und Staaten, in denen es keine Hoffnung gibt, enden im Desaster."

Helga Rabl-Stadler, Präsidentin der Salzburger Festspiele seit 1995, öffnet den Bogen der Diskussion in Salzburg noch weiter, indem sie die Eröffnungsrede von Christopher M. Clark aus dem Jahr 2014 in Erinnerung ruft. Damals habe der Autor des Standardwerks über den Ersten Weltkrieg "Die Schlafwandler" über die "Thukydides’sche Falle" gesprochen. Thukydides, der größte Historiker der griechischen Antike (eine Statue vor dem Wiener Parlamentsgebäude zeigt ihn), schrieb: "Es waren das Aufkommen Athens und die dadurch in Sparta ausgelöste Furcht, die den peloponnesischen Krieg unvermeidlich machten." Der US-Historiker Graham Allison, von dem der Begriff "Thukydides’sche Falle" stammt, hat ähnliche Fälle untersucht und festgestellt, dass in elf der fünfzehn Fälle, in denen im Laufe der letzten 500 Jahre die bestehenden Machtverhältnisse durch das Emporkommen einer neuen Großmacht infrage gestellt wurden, dies zu einem Krieg geführt hat.

Im Ersten Weltkrieg hat Deutschland Großbritannien und Frankreichs herausgefordert.

Ist die heutige Zeit nicht eine des Machtübergangs von der Atlantik- zur Pazifikregion? Clarke sagte 2014 in Salzburg, die "Geschichte gebe rätselhafte Orakel auf, über deren Bedeutung für die Gegenwart wir zum Nachdenken verpflichtet sind."