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Migration der dritten Art

Von Teresa Reiter

Politik

Der Lebensraumverlust durch Raubkapitalismus und Klimawandel wird eine neue Form von Völkerbewegung generieren.


Wer die Lebensgrundlagen der Menschen zerstört, muss zur Verantwortung gezogen werden, fordert Sassen.
© Luiza Puiu

Die US-amerikanische Soziologin und Wirtschaftswissenschafterin Saskia Sassen beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Migration. Für sie sind die nach Europa strömenden Kriegsflüchtlinge nicht vergleichbar mit den Herausforderungen der Zukunft, die aus der Zerstörung menschlichen Lebensraums entstehen. Anfang September ist Sassen Gastrednerin beim Europäischen Forum Alpbach.

"Wiener Zeitung": Es ist immer wieder die Rede vom "Zeitalter der Migration", nicht nur wegen der Flüchtlingskrise, sondern aufgrund einer generellen Zunahme an Migranten weltweit. Nicht nur Individuen verlassen ihre Heimat, sondern ganze Gesellschaften...

Saskia Sassen: Wir haben für lange Zeit massive Migrationsströme gehabt und das Gefühl dieser Ära der Migration hat es schon früher gegeben. Ich glaube, was heute anders ist, ist der massive Verlust von Lebensraum aufgrund von Klimawandel, Zunahme beim Bergbau und ausländischen Regierungen und Firmen, die immer mehr Land aufkaufen, speziell in Afrika. Ich finde, wir sollten dieses gerade aufkommende Phänomen als einen neuen Typ von Migration sehen. Mein Schlüsselargument ist, dass es uns an Regeln und Gesetzen fehlt, die anerkennen, dass diese Menschen von ihrem Grund und Boden vertrieben wurden und wenige Möglichkeiten haben, ihr Überleben zu sichern. Wir haben ein Regime für Kriegsflüchtlinge, den UNHCR, und wir haben alle möglichen nationalen Gesetze, die sich mit der Anerkennung von Immigranten beschäftigen. Aber wir haben so etwas nicht für jene, die von ihrem Land verwiesen wurden.

Gibt es so etwas wie eine Migrantenidentität? Immerhin sind heute viele junge Leute gerade in einer prägenden Phase ihres Lebens auf Wanderschaft oder in einem Flüchtlingslager.

Streng genommen ist ein Migrant oder Immigrant eine starke Person, die ein Zuhause und eine Gemeinschaft zurücklässt, um dieser zu helfen - und das oft mit dem Gedanken, irgendwann zurückzukehren. Das ist eine andere Art von Identität als jene eines Flüchtlings, der dem Tod und der Verfolgung entrinnen will, eine bedrohte und oft total verängstigte Person. Beide haben eine erkennbare Identität und sie sind sehr unterschiedlich. Der dritte Typ ist weder das eine noch das andere. Für ihn ist entscheidend, dass er keine Identität hat, die er einer potenziellen Aufnahmegesellschaft entgegensetzen könnte. Ich beschäftige mich zunehmend damit, diesem dritten Typ, der aus diesem massiven Lebensraumverlust entsteht, ein Standing im nationalen und internationalen Recht zu geben. Wir müssen die Bergbauunternehmen und die Plantagenunternehmer, jene, die diesen Lebensraum zerstört haben, zur Verantwortung ziehen, denn sie sind verantwortlich für diese neue Art von Migration.

Wie verändern sich Mehrheiten in den Aufnahmegesellschaften und in jenen Gesellschaften, die Migranten verlassen haben? Wird es das Konzept einer dominanten Kultur in der Zukunft überhaupt noch geben oder wird sich diese langsam auflösen, je heterogener die Gesellschaften werden?

Ich glaube, dass es in vielen unserer Gesellschaften eine Verwässerung der dominanten Kultur gibt, die einmal geherrscht hat. Das ist aber nicht wegen der Migranten, sondern weil die jungen Leute unserer Länder im Ausland studieren, Abenteuer in fernen Ländern suchen oder dort armen Menschen helfen. Ich habe den Eindruck, dass die Jugend in unseren westlichen Gesellschaften, speziell in Europa, bereits auf dem Weg ist, große Transformationsprozesse in Gang zu setzen. Sie öffnen unsere Gesellschaft, vielleicht nicht alle, aber mehr und mehr. Ich glaube, wir sehen, wie sich ein neues Europa erhebt, das anders ist als jenes älterer Generationen. Sogar wenn die jungen Leute am Ende in ihrem Herkunftsland leben, haben sie ein Gefühl dafür, was es heißt, Europäer zu sein. Es gibt natürlich auch junge Leute, die extrem rechts sind.

Was könnte die Flüchtlingskrise für Demokratie und Partizipation in Europa bedeuten, wenn Sie daran denken, dass jetzt eine Menge Menschen hier leben, die kein Wahlrecht haben oder irgendeine andere Möglichkeiten, ihr Schicksal in ihrer neuen Heimat zu bestimmen?

Europa hat schon lange Schwierigkeiten damit, Immigranten zu integrieren, zum Teil, weil es staatsbürgerliche Strukturen, das Leben und die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft sehr ernst nimmt. In Kontrast dazu zeichnet sich die Geschichte der Vereinigten Staaten eher durch einen Laissez-faire-Zugang aus: Du kommst an, aber musst dich um dich selbst kümmern und frag mich nicht um Hilfe. Ich weiß nicht, was davon besser ist. Wahrscheinlich sind beide problematisch. Was ich weiß, ist, dass mit der Zeit jener, der einmal ein Außenseiter war, oft gehasst oder gar verachtet, zwei oder drei Generationen später ein Mitglied der Gesellschaft ist und die Neuankömmlinge genauso behandelt, wie er selbst behandelt wurde. Die meisten Europäer waren in der Vergangenheit Ausländer. Ich sage gerne zu einer bestimmten Art von Publikum: Wir Europäer sind Kreolen.

Sehen Sie, dass sich ein neuer Klassizismus entwickelt, wenn Sie daran denken, dass das Wort "Flüchtling" ein Etikett ist, das man schwer loswird, auch wenn man längst Asyl gewährt bekommen hat? Baut das auf einem historischen Gefühl der Überlegenheit der Sesshaften auf?

Ja, aber irgendwann werden auch die Neuankömmlinge Teil der Gesellschaft, auch wenn sie Klassenunterschieden und kulturellen Stempeln nicht entkommen können.

Beanspruchen reichere Gesellschaften ein Recht für sich, das sie ärmeren Ländern nicht zugestehen wollen - nämlich sich ihren Wohnort auszusuchen?

Ja, definitiv.

Vom heutigen Tag an und von Europa aus gesehen wirkt die Flüchtlingskrise riesig. Wie wird die Geschichte das beurteilen? Wird das in 20 Jahren Abstand noch immer als eine so große Bruchlinie angesehen werden?

Ich habe ein Buch geschrieben, in dem ich 200 Jahre interne europäische Migration erforscht habe. Am Anfang war dieser Prozess immer schwierig und von Hass und Verunglimpfung gezeichnet, aber irgendwann gab es Eingliederung. Ich glaube, dass das auch diesmal passieren wird. Aber es gibt auch einen großen Unterschied zur Vergangenheit, und das ist, was ich vorhin angesprochen habe: Der massive Lebensraumverlust wird diese dritte Art von Migration generieren und wir sind darauf nicht vorbereitet. Eine weitere Frage, die ich habe, ist, wieso die europäische Führungsriege sich noch nicht an die Länder gewandt hat, die einige der Kriege begonnen haben, die diese Flüchtlingsströme verursacht haben. Denken Sie an Irak und Afghanistan. Wieso fordert niemand von den USA oder Großbritannien, mehr Verantwortung zu übernehmen? Das wundert mich.

Saskia Sassen ist Soziologin an der Columbia University und Gastprofessorin an der London School of Economics. Die 1949 in Den Haag geborene US-amerikanische Migrations- und Globalisierungsexpertin war auf Einladung des Democracy in Europe Movement im Werk X zu Gast.