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"In nächster Zeit sieht es für Brasilien sehr düster aus"

Von Konstanze Walther

Politik

Der Brasilien-Experte Andreas Novy erklärt im Interview, weshalb nach Dilmas Rousseffs Amtsenthebung ihr ehemaliger Vize Michel Temer bis zu den Wahlen 2018 an der Macht bleiben wird.


Brasilia. Die Olympischen Spiele wurden noch abgewartet. Dann ging alles auf einmal sehr schnell: Der seit Monaten andauernde Machtkampf in Brasilien ist entschieden. Der Senat votierte am Mittwoch klar für die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff, die bereits seit Mai suspendiert war. Drei Stunden später leistete ihr früherer Verbündeter und nunmehriger Erzfeind Michel Temer den Amtseid als Präsident.

Mit der Amtsübernahme durch den 75-jährigen Konservativen enden 13 Jahre linker Regierung im größten Land Lateinamerikas.

Die Senatoren mussten bei der Abstimmung in Brasilia auf eine konkrete Frage antworten: "Hat Dilma Rousseff das Verbrechen der Amtspflichtverletzung begangen?" Darauf antworteten 61 von 81 Senatoren mit Ja. Rousseff wurde vorgeworfen, Haushaltszahlen geschönt und Geld ohne Zustimmung des Kongresses ausgegeben zu haben.

Als Reaktion auf den "parlamentarischen Staatsstreich" kündigte Venezuela an, seinen Botschafter aus Brasilien abzuberufen. Auch die beiden anderen befreundeten linken Regierungen in Südamerika, Ecuador und Bolivien, erklärten, dies zu tun.

Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Brasilien-Experten Andreas Novy über Michel Temer, starke Männer und Brasiliens Zukunft.

"Wiener Zeitung": Ist die Entmachtung von Dilma Rousseff als Putsch zu bezeichnen?

Andreas Novy: Naja, es hat sich sehr klar gezeigt, dass selbst die Senatoren, die dafür gesorgt haben, dass Rousseff nicht mehr Präsidentin ist, gewusst haben, dass die Rechtsgrundlage für so eine Entscheidung nicht vorhanden ist. Denn für die Amtsenthebung hätte ein Verbrechen gegen die Verfassung vorliegen müssen. Und daran sind die Zweifel sehr groß und berechtigt.

Es haben alle gewusst, dass die Suppe zu dünn war?

Ja, das zeigt sich an Kleinigkeiten: Während vor Monaten das erste Verfahren, die Einleitung der Untersuchung eines etwaigen Amtsenthebungsverfahrens, als großes Kinospektakel inszeniert wurde, haben die Medien das tatsächliche Verfahren diesmal möglichst unbemerkt ablaufen lassen. Die Bevölkerung weiß bis heute nicht genau, warum die Präsidentin konkret abgesetzt ist. Alle wissen, dass Rousseff unbeliebt ist, alle wissen, dass sie politischen Rückhalt verloren hat. Trotzdem hat die Anklage keine Rechtsgrundlage. Die Budgettricks, die Rousseff und ihrer Arbeiterpartei vorgeworfen werden, wenden in Brasilien alle Politiker an. In Brasilien ist jetzt auch die stellvertretende Oberstaatsanwältin mit den Worten zurückgetreten: "Es ist ein politischer Putsch." Das heißt, man kann das Wort Putsch schon verwenden. Ich würde es allerdings eher so beschreiben, dass in diesem Kontinuum zwischen Demokratie und Diktatur ein großer Schritt in Richtung defekter Demokratie gegangen wurde. Es gab ja auch in Russland oder in Ungarn oder in der Türkei nie den einen Moment, ab dem ein so großer Schaden an der Demokratie genommen wurde, dass ein Regierungswechsel nicht mehr vorstellbar wäre. Aber in Brasilien ist jetzt ein Riesenschritt gesetzt worden. Nun kann sich diese Clique rund um Temer auf längere Zeit an der Macht halten.

In den von Ihnen erwähnten Beispielen der Demokratien mit autoritären Zügen, also der Türkei und Russland, haben die starken Männer, die an der Macht sind, durchaus hohe Beliebtheitswerte. Beim neuen brasilianischen Präsidenten Michel Temer ist das Gegenteil der Fall. Seine Zustimmungsraten bewegen sich im niedrigen einstelligen Bereich. Ist Beliebtheit hier eine Frage der Zeit?

Im Vergleich mit diesen Ländern gibt es einen gravierenden Unterschied, der den brasilianischen Fall für Außenstehende auch so schwer verständlich macht. Abseits der Erfolge und der vielen Fehler, die auf das Konto der Arbeiterpartei und Präsidentin Rousseff gehen, hat Rousseffs Team eine Sache entscheidend anders gemacht als diese starken Herren: Die Arbeiterpartei hat die Polizei und die Justiz unabhängig gelassen. Das ist ihr, zynisch gesagt, jetzt auf den Kopf gefallen. Man hat den Eindruck, als wäre die Amtsenthebung ein Sieg der Opposition. In Wahrheit ist die Partei des jetzigen Präsidenten Temers seit dreißig Jahren an jeder Regierung beteiligt. Die Arbeiterpartei PT war nur dreizehn Jahre an diesem Machtkartell beteiligt. Sie hat alle weiterleben lassen und nebenbei ihre Sozialpolitik durchgeführt. Das führte dazu, dass sie auch so korrupt wie andere geworden ist. Bezüglich der Unbeliebtheit von Temer: Nach 30 Jahren an der Regierung hat keiner in Brasilien das Vertrauen, dass so eine Partei und so ein Mensch irgendetwas anders und besser machen werden.

Woran merkt man noch, dass die Anklage, die zur Amtsenthebung Rousseffs geführt hat, auf juristisch wackeligen Beinen stand?

Der Senat hat vollkommen unerwartet entschieden, dass Präsidentin Rousseff zwar ihres Amtes enthoben wurde, aber sofort wieder für politische Ämter kandidieren kann. Normalerweise werden des Amtes Enthobene mit einer zeitlichen Sperre belegt. Hätte Rousseff die ihr zu Last gelegten Verbrechen begangen, wäre dies der logische nächste Schritt. Aber der Senat hat gesagt: "Rousseff hat sich etwas zuschulden kommen lassen, weswegen sie nicht mehr Präsidentin sein kann, aber eigentlich hat sie nicht wirklich etwas Schweres verbrochen. Sie kann ruhig bei nächster Gelegenheit wieder kandidieren." Das sagt ja schon alles.

Ist diese Abmilderung des politischen Schicksals Rousseffs auch ein Erfolg der Verhandlungen ihres politischen Ziehvaters Lula da Silva, der vor ihr acht Jahre lang Präsident war? Und der die sogenannte Hinterzimmerpolitik in Brasilien, also Deals gegen Versprechen, ja auch sehr gut beherrscht?

Natürlich. Der jetzige Senatspräsident war ja auch einst ein enger Verbündeter von Lula, der diesen Politikstil schätzt. Die Entscheidung von Lula und später von Rousseff war, dass man sich mit den Politikern arrangiert. Das Grundprinzip, warum Lula so lang beliebt war, lautet: Leben und leben lassen. Der Preis des Prinzips heißt eben auch Wegschauen bei der Korruption, bei fremden genauso wie bei eigenen Leuten. Die Abmilderung des Urteils gegenüber Rousseff war eine kleine Rück-Anerkennung des jahrelangen Miteinanders.

Michel Temer beschwört nun die Einheit des Landes. Ist das nicht zynisch angesichts der Tatsache, wie er nun ins Präsidentenamt gekommen ist?

Das muss man anders verstehen. Das Einzige, was Temer kann, ist, Mehrheiten im Parlament organisieren. Das ist die Regierungsgrundlage. Da haben wir jetzt ein Bündnis aus zwei Gruppen. Die große Mehrheit davon sind Opportunisten, die frei nach dem Zitat leben: "Ich ändere mich nicht, ich bin immer auf Seiten der Regierung." Diese Opportunisten haben sich mit der Arbeiterpartei PT arrangiert. Jetzt arrangieren sie sich mit dem exakt gegenteiligen Programm. Sie wollen Ämter, sie wollen Schulen in ihren Wahlgegenden. Es ist schlicht Klientelismus. Die zweite Gruppe, die jetzt an die Macht kommt, sind die erzkonservativen Neoliberalen, die morgen schon ein radikales Sparpaket nach Griechenland-Art umsetzen wollen. Diese zwei Gruppen sind jetzt in einem Boot. Was sie verbindet, ist der Wunsch nach Einstellung der Korruptionsermittlungen, die fast die Hälfte des Senats betreffen. Das ist das Erste, was passieren wird. Es gibt vielleicht noch ein Korruptionsverfahren gegen Lula. Aber alle anderen großen Köpfe werden verschont bleiben.

Wird die neue Regierung also auf Amnestie und ein Versanden der Verdachtsmomente setzen?

Genau. Das war ja schon vor der Regierungszeit der Arbeiterpartei üblich: von der Archivierung bis zur Verjährung. Das ist der Arbeiterpartei jetzt auf den Kopf gefallen. Denn bei ihnen wurde nicht mehr archiviert, daher haben die Politiker Angst bekommen. Das ist die gemeinsame Geschäftsgrundlage. Und dann muss man sich eben noch streiten, wie das nächste Sparpaket aussehen wird. Denn in den drei Monaten des Amtsenthebungsverfahrens ist das Budget explodiert, das Defizit ist so hoch wie noch nie. Die Richter haben 20 bis 25 Prozent Gehaltserhöhung bekommen, dabei ist das Land bankrott.

Punktuelle Gehaltserhöhungen für die Richterschaft riecht nach einem Zufriedenstellen dieser Gruppe. . .

Ja, in dem Fall ist es leider bereits ein Anerkennungspreis. Aber auch Pleite-Gouverneure haben noch einen Zuschuss aus der zentralen Budgetkasse bekommen. All das treibt das Defizit in die Höhe. Das Problem ist, dass das wahrscheinlich bei Schulen und Spitälern eingespart wird.

Sie haben vorher von einer defekten Demokratie gesprochen. Jetzt ist es so, dass es zwar das Talent von Michel Temer ist, Mehrheiten in den Volksvertretungen zu schaffen, Temer aber vom Volk selbst mit überwiegender Mehrheit abgelehnt wird. Geht der Wille vom Volk zunehmend verloren? Ein Journalist aus Brasilien hat nach der Amtsenthebung gesagt: "Brasilien war noch nie was für Amateure, aber jetzt ist es nicht einmal mehr etwas für Profis."

Das ist ein Ausdruck dieser Verdrossenheit. Die Arbeiterpartei hat ihre Demontage nicht unwesentlich selbst verschuldet. Und nun gibt es keine Alternative. Wir sind in der Situation, dass niemand ein alternatives Programm anbietet. Temer wird in dieser Alternativlosigkeit mindestens bis zu den Wahlen 2018 regieren. Meine Befürchtung ist, dass das funktioniert, aber um den Preis erhöhter Repression. Und damit hat Brasilien ja leider lange Erfahrung: in der Unterdrückung von Straßenprotesten von Landlosen, von Indigenen.

Brasilien war früher berühmt für diese sozialen Bewegungen, um die es aber während der Regierung der Arbeiterpartei still geworden ist. Könnte es sein, dass jetzt die Stunde der Renaissance dieser Bewegungen gekommen ist?

Das wird wahrscheinlich zum Teil passieren, aber es wird auch ganz stark mit Repression beantwortet werden und insgesamt auf den Lauf der Dinge wenig Einfluss haben. Die Stimmen der Landlosen, der sozialen Bewegungen, wurden schon längst aus dem politischen Prozess herausgedrängt. Dazu kommt, dass wir in Brasilien eine lange Geschichte einer Justiz haben, die bei Menschenrechtsverletzungen die Augen zumacht, und dass Polizisten nicht verurteilt werden. Die Zahl der Polizeiübergriffe ist rund
um Rio 2016 ganz stark angestiegen. Über all das wird in den Medien nicht berichtet. Kanäle, damit Dinge bekannt werden, sind nicht vorhanden. In nächster Zeit sieht es in Brasilien sehr düster aus.

Geht Brasilien in Richtung eines "failed state"?

Nein. Man muss mit diesen Worten, auch mit Autoritarismus und Diktatur vorsichtig sein und sich immer wieder Orbán in Ungarn und Erdogan in der Türkei vor Augen führen. Es ist auch schwierig, diese Regime zu benennen. Beide haben hochautoritäre Züge und tendieren dazu, der Opposition jede faire Chance, an die Macht zu kommen, wegzunehmen. Beide Länder sind trotzdem weit entfernt von einem "failed state". Es ist eher ein starker Staat. Bevor Brasilien ein "failed state" ist, ist es eher eine Diktatur. Was es aber nicht ist, genauso wenig wie Ungarn. Man muss aber besorgt sein über all diese graduellen Verschiebungen in einer defekten Demokratie.

Es heißt, das linke Projekt in Brasilien sei gestürzt. Aber wie neoliberal ist die neue Regierung unter Michel Temer als Präsident?

Temers Partei besteht aus Opportunisten. Klientelismus und Opportunismus, das sind zwei Wörter, die auf die Partei zutreffen. Sie sind extrem geschickt im Organisieren von Stimmen - sowohl von Wählerstimmen als auch von Mehrheiten im Parlament. Neoliberal ist die Partei des Koalitionspartners, der sogenannten Sozialdemokraten (PSDB). Die sind de facto rechtskonservativ und haben ein radikal neoliberales Programm. Das sind die Leute, die jetzt das Finanzministerium und die Zentralbank kontrollieren und bei Weitem konservativer sind als der Internationale Währungsfonds. Und sie haben jetzt in Brasilien unbestritten die Verfügungsmacht über die Wirtschaftspolitik.

Was bedeutet das für die Konjunktur in Brasilien, die ja in der Vergangenheit mit derart schlechten Zahlen zu kämpfen hatte?.

Da reicht ein Blick nach Südeuropa, wo sich die Budgetdefizite auch nach beziehungsweise wegen des Sparprogramms ausgeweitet haben. Nach langer Talfahrt stabilisiert sich eben irgendwann die Wirtschaft auf niedrigem Niveau. Es könnte sein, dass Brasilien jetzt diesen Punkt erreicht hat, nachdem es schon so lange bergab gegangen ist. Andererseits waren die Unternehmen in der großen Mehrheit für den Machtwechsel. Es gibt Hoffnung, dass sie jetzt mehr investieren. Aber da zeigt Südeuropa auch, dass man nicht zu viel erwarten darf. Es ist eher eine Stagnation auf niedrigem Niveau zu erwarten, eine weitere De-Industrialisierung und Ausweitung der Abhängigkeit von Rohstoffen wie Soja und Erdöl, das im Übrigen jetzt billig privatisiert wird.

Das Ölgeschäft in Brasilien ist ja schon seit jeher teilprivatisiert.

In den vergangenen Jahren ist aber tendenziell wieder re-verstaatlicht worden, das funktionierte über Aufstockungen des Grundkapitals des Erdölkonzerns Petrobras (der auch im Mittelpunkt der Korruptionsvorwürfe stand, Anm.). Aber Ölfelder in Brasilien gehören vor allem dem Staat und nicht den privaten Firmen. Die werden jetzt verkauft. Das wird ein Rieseneldorado für Shell und Exxon und so weiter. Und sie werden - das ist ein ganz wichtiger Punkt - die Verfassung ändern. Bisher mussten diese Einnahmen aus dem Ölgeschäft im Wesentlichen für Gesundheit und Bildung ausgegeben werden. Das wird sich nun ändern. Stattdessen wird die Schuldenbremse in der Verfassung kommen. Das sind Vorschläge, die schon am Tisch liegen und ganz sicher Ende des Jahres in den Gesetzgebungsprozess kommen.

Zur Person
Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er verfasste seine Habilitationsschrift zu "Brasilien: die Unordnung der Peripherie", erschienen im Promedia Verlag (2001).