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Die neue Route Richtung Europa

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Eine Reise an die Mittelmeerküste Ägyptens, von wo aus nun immer mehr Menschen versuchen, nach Italien zu gelangen.


Alexandria. Ibrahim trägt eine braune Galabija, das traditionelle, knöchellange Gewand ägyptischer Männer, und schaut versonnen auf das Mittelmeer. Wie eine Perlenkette reihen sich die Fischerboote aneinander und fahren hinaus aufs offene Meer. Wir sind auf halbem Weg zwischen Alexandria und Damietta, dort, wo der Sand am feinsten, das Meer am ruhigsten ist und sich nur wenige Badegäste verirren.

Fischen am helllichten Tag? "Nein", antwortet Ibrahim, "das sind Flüchtlinge." Früher hätten hier alle vom Fischfang gelebt, auch er. Doch seitdem immer mehr Menschen nach Europa wollen, habe das Geschäft mit den Flüchtlingen die Fischerei abgelöst. Auch er habe sein Boot an die Schlepperbande verkauft und gutes Geld dafür kassiert. Ob er denn zurückfände zum Fischfang, wenn die Flüchtlingswelle abebbe? Er zuckt mit den Schultern. Im Moment sähe es nicht danach aus, sagt der 54-Jährige, im Gegenteil. Die Fahrten übers Mittelmeer hätten in den letzten Wochen drastisch zugenommen, seit in Libyen die Küsten stärker bewacht werden. Östlich von Alexandria sei man ungestörter. Er habe noch keine Küstenwache gesehen und die Polizei vor Ort drücke beide Augen zu. Ibrahim macht eine unverkennbare Handbewegung: "Bakschisch", flüstert der Ägypter - Schmiergeld. Und dann: "Es sind ja längst nicht mehr nur Syrer und Schwarze aus Somalia und Eritrea, die nach Europa wollen, sondern immer mehr Ägypter."

Dem Hinweis des Fischers folgend, fahren wir nach Burg el Burullus, ein Fischerdorf, das zum Umschlagplatz für Flüchtlingsboote geworden sein soll. Idyllisch gelegen, hat der Ort sowohl Zugang zum Meer als auch zum Nil, der weit verzweigt sein Delta bildet und einen kleinen See vor dem Dorf geschaffen hat. Hadi sitzt in einem Kaffeehaus an der Hauptstraße, die schnurgerade durch den Ort führt, genießt seinen Feierabend und trinkt eiskalten Karkade, den dunkelroten Hibiskustee.

Er sei Schiffbauer, erzählt der 30-Jährige, wie alle hier. Stolz zeigt er Fotos von Jachten, die er für reiche Golfscheichs gebaut und ausgestattet hat. Momentan lebten sie aber zunehmend vom Umrüsten gebrauchter Fischkutter zu Flüchtlingsbooten. Diese würden dann außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone in internationale Gewässer gebracht, wo sie vor dem Zugriff der Küstenwache sicher seien. Wenn das Boot dann voll ist, gehe es Richtung Italien.

"Mit diesem Lohn kann ich nicht einmal heiraten"

Am nächsten Morgen nimmt uns Hadi mit zum Hafen. Dort liegen hunderte von Fischkuttern aller Größen, Jahrgänge und in unterschiedlichem Zustand. Es wird geschweißt, gehämmert, gestrichen. Hadi rüstet gerade einen mittelgroßen Kutter um, entfernt die Seile für die Netze, setzt die Flaschenzüge fest und rollt die Taue zusammen.

Etwa 400 Leute fänden Platz, wenn die Umrüstung beendet sei, meint der Schiffbauer. Zwischen einer und 1,5 Millionen ägyptischer Pfund müsste ein Schlepper dem Schiffseigner dafür bezahlen. Ein Euro sind derzeit offiziell zehn ägyptische Pfund. Auf dem Schwarzmarkt in Alexandria bekommt man zwölf Pfund für einen Euro. Da die Überfahrt in Devisen an die Schlepper bezahlt werden muss, steigt der Kurs ständig. Zwischen 30.000 und 50.000 Pfund pro Person kostet der gefährliche Trip nach Italien.

Hadi verdient 1500 Pfund im Monat. "Mit diesem Lohn kann ich noch nicht einmal heiraten, geschweige denn nach Lampedusa fahren", kommentiert er die Relation. Beim Gang über den Kutter zeigt er auf die freie Fläche am vorderen Deck. Es ist ihm sichtlich unwohl, als er berichtet, dass dort zuweilen ein Loch in den Schiffsboden gebohrt werde, wenn die italienische Küste in Sicht sei. Wenn das Schiff dann sinke, würden die Insassen von der italienischen Küstenwache gerettet, einschließlich der Mannschaft, so das Kalkül einiger Schlepper.

Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. "Es gibt schlimme Geschichten, wie sie die Flüchtlinge behandeln", sagt Hadi. Das Geschäft läge aber fest in der Hand einer Mafia in Rashid. Die würde auch die Boote in Burg el Burullus kaufen, niemand anders.

Bereits vor drei Jahren wurden erste Berichte über Flüchtlingsbewegungen von der Küste Ägyptens veröffentlicht. Die Boote starteten damals von Damietta aus entweder nach Griechenland oder Zypern. Jetzt fahren sie nach Lampedusa oder Sizilien. Was langsam begann, hat sich mittlerweile zu einem Riesengeschäft ausgewachsen, das von Tag zu Tag größer wird.

Infolge des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei wagen mehr Menschen denn je die lebensgefährliche Überfahrt über das zentrale Mittelmeer. Mittlerweile kämen aus Libyen 13- bis 14-mal mehr Flüchtlinge nach Italien als Migranten aus der Türkei nach Griechenland, sagt der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri.

"Früher haben wir Zigaretten und Drogen geschmuggelt"

"Die zentrale Mittelmeerroute ist so stark frequentiert wie noch nie." Leggeri rechnet mit bis zu 300.000 Menschen, die in diesem Jahr in Italien anlanden werden. Weil Frontex mit ihrer Mission "Sophia" seit kurzem die internationalen Gewässer vor Libyen kontrolliert, weichen die Flüchtlinge vermehrt nach Ägypten aus. Das hat Leggeri inzwischen erkannt. Ägypten entwickle sich zu einem "neuen Hotspot, die Route wächst". Die Überfahrt sei hochgefährlich, die Fahrt dauere oft länger als zehn Tage. "In diesem Jahr liegt die Zahl bei etwa 1000 Überfahrten per Schlepperboot aus Ägypten nach Italien." Die Tendenz sei steigend.

Der Crystal Club in Rashid liegt direkt am Nil und zeugt von einer glorreichen Vergangenheit des historischen Rosetta, wie die Stadt einst hieß. 870 gegründet, war Rosetta im Mittelalter eine bedeutende Hafenstadt. Doch vom Flair der einstigen Handelsmetropole sind nur noch wenige gut renovierte Häuser und eine Moschee übrig geblieben. Ansonsten ist die Stadt wie der Crystal Club: marode. Dass sich gerade hier der Sitz des Schmugglerrings für die Flüchtlinge übers Mittelmeer befindet, wundert indes nicht. "Früher haben wir von Rashid aus Zigaretten und Drogen rübergeschmuggelt", sagt einer der drei sogenannten Vermittler, die im Clubhaus Platz genommen haben. "Heute sind es Menschen." Nur einer ist bereit, seinen Spitznamen zu veröffentlichen. Die anderen haben Angst vor der Staatsmacht, denn illegale Migration ist in Ägypten per Gesetz verboten.

Es seien nur etwa zehn Männer, die das Flüchtlingsgeschäft in ihren Händen hielten, erzählt Naggy, einer der Broker, die Ausreisewillige zu den Schleppern bringen. "Die Bosse sind alle Ägypter mit guten Kontakten nach Italien." Naggy ist erst 32 Jahre alt, hat es aber bereits zu beachtlichem Wohlstand gebracht, den er vorzeigt: schicke spitze Schuhe, weißes Seidenhemd, paillettenbesetzt, Brillis als Manschettenknöpfe, schwarze elegante Hose, Rolex-Uhr am Handgelenk.

Ein Vermittler müsse den Transport von Land auf die großen Fischkutter organisieren, sagt er. Dafür werden kleine Fischerboote oder auch Schlauchboote benutzt. Manchmal würden die Flüchtlinge in Privatquartieren untergebracht, bis es losgeht. Von Kafr el Sheikh, Rashid oder anderen Orten ginge es den Nilarm entlang aufs offene Meer. Dort werden die Menschen dann "umgeladen" und nach Italien verschifft. Der Broker kassiert eine Provision. Wenn sich die Schiffe der italienischen Küste näherten, würde die Küstenwache verständigt, die die Flüchtlinge dann abholt.

Ägypter machten mittlerweile fast die Hälfte der Flüchtlinge aus, Syrer werden weniger. Allerdings bekämen diese ohne Probleme Zugang zur EU. In Alexandria gäbe es deshalb Kurse unter dem Motto "Wie werde ich Syrer", in denen Ägypter den syrischen Dialekt lernen und sich eine syrische Identität aneignen.

Sorge bereitet Naggy, dass immer mehr Minderjährige die Flucht übers Mittelmeer antreten. Neulich habe er von einer ägyptischen Familie nahe der libyschen Grenze erfahren, die bereits zwei ihrer minderjährigen Kinder auf die Reise nach Europa geschickt hatten. Nachdem beide ertranken, habe die Familie nun ein drittes Kind zu ihnen nach Rashid geschickt, weil "wir hier besser auf die Leute aufpassen".

Tatsächlich ist die Migration Minderjähriger ein Riesenproblem für Ägypten. Seit April sei die Zahl unbegleiteter Kinder unter den Flüchtlingen dramatisch angestiegen, im Vergleich zum Vorjahr auf das 37-Fache, informiert die Internationale Organisation für Migration (IOM). Während die Ägypter im Gesamtkontext noch nicht die Mehrheit der Migranten ausmachten, lägen sie bei den Minderjährigen mit Abstand (66 Prozent) vorne.

Die Flucht Minderjähriger aus Ägypten hat derartige Dimensionen angenommen, dass selbst die Regierung in Kairo das Phänomen inzwischen nicht mehr leugnen kann. So berichtete die hauptamtliche Tageszeitung "Al Ahram" vor kurzem über ein Symposium zu diesem Thema. Ein Komitee zur Vermeidung illegaler Migration will Perspektiven für Jugendliche schaffen, damit sie im Land bleiben. Nasser Musallam, Vorsitzender des Komitees, spricht von 15.000 illegalen Migranten aus Ägypten nach Europa im Jahr 2009. Sechs Jahre später sind es bereit 90.000, davon die meisten zwischen sechs und 15 Jahren.

Musallam macht die italienische Gesetzgebung dafür verantwortlich, die besagt, dass Kinder unter 18 Jahren nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden können. Eine Medienkampagne unter dem Motto "Ägypten, deine Zukunft" soll die Jugendlichen nun davon überzeugen, ihre Zukunft nicht im Ausland zu suchen.

"Schauen Sie doch,wir sterben hier"

"Ich mag die Leute in Europa", begründet Naggy sein Engagement für die Flüchtlinge. "Sie respektieren sogar Tiere." Hier in Ägypten gäbe es keinen Respekt, für niemanden. Deshalb fände er nichts Schlimmes dabei, die Menschen nach Europa zu bringen. Sie hätten dort ein besseres Leben. "Schauen Sie doch, wir sterben hier", sagt der Flüchtlingsvermittler und zeigt auf die herumlungernden Jugendlichen, die keinen Job und keine Perspektiven finden, die Müllberge und den Dreck, die den Nilarm in Rashid säumen. "Jederzeit würde auch ich nach Europa gehen - aber nicht im Boot."