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An der Frontlinie eines eingefrorenen Konflikts

Von Thomas Seifert aus Stepanakert

Politik

Zwischen den Armeen von Berg-Karabach und Aserbaidschan kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen.


Blick über Talish. Ruinen stehen zwischen den Hügeln und den bewaldeten Hängen von Berg-Karabach, was so viel heißt wie "gebirgiger schwarzer Garten". Das Dorf wurde Anfang April dieses Jahres mit Artillerie beschossen und ist leer und verlassen. Die meisten Menschen leben heute rund 40 Kilometer entfernt.
© Thomas Seifert

Stepanakert. Der Name Maria Ohanyan steht auf dem grünen Schulheft, das in der zerstörten Schule von Talish im Staub liegt. Die Schule im Norden der umstrittenen Provinz Berg-Karabach wurde am 2. April 2016 von Artilleriegranaten getroffen, Schulbänke und Sessel liegen herum, die Fenster sind zersplittert, die Türen wurden von den Explosionen aus den Rahmen gerissen. Überall Schutt, Trümmerteile, Metallstücke, Glas- und Holzsplitter.

Nun hält Vilen Petrosian, Bürgermeister von Talish, das Schulheft in der Hand, blättert darin und ist sichtlich bewegt. Sein Dorf Talish gibt es nicht mehr, seit den Kämpfen im April sind die Menschen geflüchtet. Maria, erzählt der Bürgermeister, ist eine Klassenkameradin seiner Tochter, doch die Zeilen der Zwölfjährigen bringen die Erinnerung an jene Zeit zurück, da im heute zerstörten Gebäude noch Schüler herumwuselten und die Schulkorridore von ihrem Stimmengewirr erfüllt waren.

In den Schulaufsätzen von Maria Ohanyan geht es um Berge, grüne Wiesen, blauen Himmel und Heimatliebe. Patriotismus ist im Curriculum der Schulen großgeschrieben, denn Berg-Karabach befindet sich seit 1991 im Krieg. Im Krieg mit Aserbaidschan. Somit ist für Maria Ohanyan, die 12-jährige Schülerin aus Talish die Sache klar: Sie liebt ihre Heimat, in der Schule lernt sie, dass Arzach (Berg-Karabach) der vorderste Posten des Christentums in dieser Region ist. In ihrer Schule ist von Selbstbestimmung für die Bewohner von Berg-Karabach die Rede, von Unabhängigkeit, Menschenrechten und Freiheit.

Zwei Narrative

© Thomas Seifert

Wo aber Krieg herrscht, ist es für unbeteiligte, neutrale Beobachter immer sehr schwer, Fakten und Propaganda auseinanderzuhalten, wo Krieg herrscht, konkurrieren Narrative, wo jede Seite ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Geschichte hat. Wo jede Seite die eigenen Heroen verehrt und die eigenen Opfer beklagt.

Die Bewohner von Talish nennen ihre Heimat Berg-Karabach Arzach, ein Name, der auf eine Provinz des Königreiches Armenien zurückgeht. Für Aserbaidschan wiederum ist Berg-Karabach eine abtrünnige Provinz, die auch international nicht anerkannte Regierung in Stepanakert, das man in Aserbaidschan Xankendi nennt, nichts anderes als eine Marionettenregierung des Nachbarn Armenien. Das umstrittene Gebiet gilt in Aserbaidschan als Teil eines "kaukasischen Albanien", dem die Rolle als historischer Vorläufer des heutigen Aserbaidschans zugeschrieben wird.

Marias Heimatliebe

© Thomas Seifert

Der Bürgermeister nimmt das Schulheft der Maria Ohanyan mit ins 37 Auto-Kilometer südwestlich gelegene Alashan, wohin die Familien nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten geflohen sind. Maria sitzt gerade in einer Klasse, in der behelfsmäßig für die Flüchtlingskinder eingerichteten Schule, als Bürgermeister Petrosian mit ihrem alten Schulheft ins Lehrerzimmer kommt. Maria wird aus der Klasse geholt, der Bürgermeister übergibt ihr das Heft und die scheue 12-Jährige liest dann mit überraschend fester Stimme aus ihren Aufsätzen vor. Maria hat ihre Gewissheiten. Sie liebt ihre Heimat, sie kennt die Geschichte des Landes, in dem sie lebt. Und seit sie mit den restlichen Bewohnern des Dorfes Anfang April fliehen musste, hat sie auch am eigenen Leib erfahren, wie gefährdet ihre Existenz und wie fragil die politische Lage hier ist. Jetzt lebt sie mit ihren Eltern, ihren zwei Geschwistern und ihrer Großmutter in einer Flüchtlingsunterkunft. Nach ihren Zukunftsplänen gefragt, hat sie aber eine erstaunlich konkrete Antwort: Sie möchte eines Tages Journalistin werden, sagt sie, dass das Lieblingsfach der Tochter einer Lehrerin armenisch ist, sollte ihr bei der Verwirklichung ihre Zukunftspläne helfen. Allerdings: Die Vergangenheit droht wieder und wieder ihre Schatten auf die Zukunft zu werfen, solange es nicht gelingt, eine Friedenslösung für Berg-Karabach zu finden. Zukunftspläne in diesem Land zu schmieden braucht ein gerütteltes Maß Optimismus.

Die Schatten der Vergangenheit

Menschen sind, das musste die 12-jährige Maria am eigenen Leib erfahren, nichts weiter als Schachfiguren am Brett der Geschichte.

Der letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, schreibt in seinen 1995 erschienen "Erinnerungen": "Der Streit um Berg-Karabach reicht bis ins Altertum, in raue Vorzeit zurück. Seit eh und je lebten auf diesem fruchtbaren Boden Seite an Seite zwei Völker (Armenier und Aserbaidschaner, Anm.), das Land aber besaßen immer wieder unterschiedliche Herren (Kurden, Araber, Perser, Osmanen und schließlich Russen, Anm.). Zweihundert Jahre lang gehörte es zu Persien. Überwiegend war die Gegend jedoch von Armeniern besiedelt, deren uralter Traum, sich mit der Heimat zu vereinen, kurz nach der Revolution (von 1917, Anm.) fast in Erfüllung gegangen wäre." Doch es kam anders, Berg-Karabach blieb bei Aserbaidschan. Und schon vor dem Zerfall der Sowjetunion kam es immer wieder zu Feindseligkeiten zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Die polnische Reporterlegende Ryszard Kapuscinski bereiste anfang der 90er Jahre Berg-Karabach, seine Reportage ist im 1994 erschienen Buch "Imperium" nachzulesen, wo einer seiner Gesprächspartner zitiert ist: "Wir sitzen in der Falle. Wir sind unter der Besatzung von Moskau, aber wenn Moskau von hier abzieht, dann fallen wir unter die Besatzung von Baku (Aserbaidschans Hauptstadt, Anm.)."

Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es 1991 zu einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach. Mit rund 30.000 Todesopfern war das einer der blutigsten Gewaltausbrüche im postsowjetischen Raum. 750.000 Menschen wurden von Armeniern vertrieben, 390.000 Armenier mussten aus Aserbaidschan fliehen. In Berg-Karabach, wo früher 23 Prozent der Bevölkerung Aserbaidschaner waren, liegt der Bevölkerungsanteil dieser Ethnie heute bei nahe null.

© Thomas Seifert

Seit 1992 bemüht sich die "Minsker Gruppe" der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE), immer wieder um eine Friedenslösung - aber ohne Erfolg. Immerhin gab es seit dem Waffenstillstand von 1994 bis 2014 eine erstaunliche Ruhephase, doch machten die Kämpfe vom April dieses Jahres deutlich, dass die Situation jederzeit eskalieren kann.

An der Kontaktlinie

Das wissen auch die Soldaten eines Regiments der Armee von Berg-Karabach, die etwa zehn Kilometer nördlich von Martuni, an der sogenannten "Kontaktlinie", stationiert sind. Schützengrabensysteme wie in den Schlachten von Verdun vor 100 Jahren mit Unterständen, Feldtelefonen, Alarmanlagen aus Blechbüchsen und vorgeschobenen Beobachtungsposten, von denen man die Stellungen der aserbaidschanischen Armee mit freiem Auge sehen kann. Immer wieder gibt es Schusswechsel, erzählt ein Offizier, die aber meist auf Missverständnissen beruhen weil meist in der Nacht aus Nervosität der Abzug gedrückt wird. Da schießt dann eine Seite, die andere Seite erwidert das Feuer und wenn alle Glück haben, ist der Spuk damit auch wieder vorbei. Zu Provokationen würde es aber immer wieder kommen, sagt der Offizier. Schimpfen, Fluchen und Zetern auf Russisch, Armenisch und Aserbaidschanisch, einmal sei sogar ein Hund mit einem Zettel vollgekritzelt mit Flüchen und Verwünschungen über das verminte Niemandsland geschickt worden. Als Reaktion wird dann zurückgekeppelt, "zum Glück kann ich die aserbaidschanische Sprache", sagt der Offizier und setzt ein verschmitztes Lächeln auf.

Im April, als anderswo Gefechte aufflackerten, war es hier allerdings vergleichsweise ruhig, berichtet der 19-jährige Soldat Chatschatryan, der nach seinem Armeedienst Zahntechniker werden möchte. Gut vorstellbar, dass der größte Feind im Schützengraben an vielen Tagen die Langeweile ist.

Offshore-Konglomerat

© Thomas Seifert

Armine G. Alexanyan ist stellvertretende Außenministerin von Arzach (Berg-Karabach). Sie ist Ministerin einer Regierung, die von keiner anderen Regierung anerkannt wird, und sie vertritt ein Land, das von keinem anderen Land anerkannt wird. In ihrem Büro im Ministerium in Stepanakert erzählt sie, dass auch sie damit rechnet, dass der Konflikt jederzeit wieder eskalieren könnte. "Beide Seiten haben ihre Rüstungsanstrengungen verstärkt. Wenn man einen Nachbarn hat, der sich damit brüstet, viermal mehr Geld für Rüstung auszugeben, als Armenien für die gesamten Staatsausgaben budgetiert, dann ist das doch einigermaßen beunruhigend. Da kann man auch nicht davon sprechen, dass man da seine Hoffnungen auf Gott allein setzen kann."

Den Menschen in Berg-Karabach sei im April in Erinnerung gerufen worden, dass sie, wenn sie hier leben wollten, "allzeit bereit" sein müssten, wie Alexanyan sagt. Auf ihre Interpretation auf die Eskalation im April angesprochen, sagt sie: "Die Eliten in Aserbaidschan haben den Konflikt stets dazu benutzt, das Volk ruhig zu halten". Der niedrige Ölpreis habe Aserbaidschans Wirtschaft Probleme bereitet, zudem sei von Investigativjournalisten enthüllt worden, dass die Familie von Präsident Ilham Alijew ein komplexes Offshore-Konglomerat mit Goldminen und Auslandsimmobilien besitzt. Mit dem Blitzkrieg in Berg-Karabach hätte von alldem abgelenkt werden sollen, so die Interpretation der Regierungsvertreterin in Stepanakert.

In Aserbaidschan sieht man dies freilich anders: Der lange Waffenstillstand habe nach Ansicht Bakus lediglich dazu geführt, dass Armenien seine Position in Berg-Karabach gefestigt habe. "Es darf bei der armenischen Seite und der internationalen Staatengemeinschaft nicht das Missverständnis entstehen, dass die Kontaktlinie eine Art Grenze zwischen Aserbaidschan und Berg-Karabach ist", heißt es aus aserbaidschanischen Diplomatenkreisen. Man würde es gerne sehen, dass die Friedensgespräche zwischen Aserbaidschan und Armenien während des österreichischen Vorsitzes bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Jahr 2017 wieder in Gang kommen: Allerdings bestehen die Diplomaten Aserbaidschans stets darauf , dass Armenien alle Truppen aus den besetzten Territorien abzieht - und berufen sich dabei auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats.

Friedensinitiative der OSZE?

© Thomas Seifert

Doch eine Friedensinitiative liegt nach derzeitigem Ermessen in weiter Ferne - auch wenn beide Seiten solche stets begrüßen und der Parlamentspräsident von Berg-Karabach, Ashot Ghoulian, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" Außenminister Sebastian Kurz zu Vermittlungsgesprächen nach Stepanakert eingeladen hat. Die Nachbarschaft ist zudem alles andere als einfach: Russland, Georgien, Iran und die Türkei - sie alle haben ihre spezifischen widerstrebenden Interessen im Südkaukasus.

Der 12-jährige Maria Ohanyan kann man somit getrost ein bewegtes Leben vorhersagen: Sie wird in einem Landstrich erwachsen werden, der auch noch in den nächsten Jahrzehnten instabil und konfliktreich sein wird. Es sei denn, es gelingt Diplomaten und Politikern, die Friedensgespräche wieder flottzukriegen. Ob wohl in den Schulheften der künftigen Generationen von Aufsätze über Frieden in Berg-Karabach zu lesen sein wird?