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Die Agenda des 45. Präsidenten

Von Thomas Seifert

Politik

Auf dem Schreibtisch im Oval Office des Weißen Hauses türmen sich schon heute die Aufgaben für die kommenden vier Jahre.


Washington/Wien. 20. Jänner 2017. Inauguration Day. Ein neues Staatsoberhaupt zieht in die Pennsylvania Avenue Hausnummer 1600. Das Transition Team, jene Kerngruppe an Mitarbeitern, die die Hofübergabe von Barack Obama, an den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten organisiert haben, muss bis zu diesem Tag ganze Arbeit geleistet haben. Die Büros der wichtigsten Präsidenten-Berater im West Wing des Weißen Hauses müssen bezogen sein, im Oval Office wird nach den Zeremonien und Bällen dieses Tages jene Person, die Obama nachfolgt, hinter dem wuchtigen Schreibtisch Platz nehmen. Von Tag eins wartet eine Menge Arbeit.

1. Steigende Einkommensungleichheit

Die reichsten 80 Milliardäre besitzen heute mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung von 3,5 Milliarden Menschen. Das reichste eine Prozent hat größere Vermögen angehäuft als die restlichen 99 Prozent. Unter den westlichen Industrienationen der OECD ist die Einkommensungleichheit nur in der Türkei, Mexiko und Chile höher als in den USA. In postmodernen, postindustriellen Gesellschaften wird dieser Trend wohl weitergehen: Nie war Zugang zu Bildung wichtiger für eine erfolgreiche Berufskarriere. Eine erstklassige Universitätsausbildung ist in den USA aber extrem teuer - ein Studium an einer Eliteuniversität kostet rund 60.000 Dollar pro Jahr.

2. Wachstum generiert Arbeitsplätze

Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten wächst seit Jahren schneller als jene der Eurozone. Im letzten Quartal betrug das Wachstum 2,9 Prozent und lag damit 1,4 Prozentpunkte über dem Vorjahreswert. Die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 4,9 Prozent. Während in den Hi-Tech-Sektoren viele neue und auch gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen, verschwinden immer mehr Jobs in der Industrie. Automation und Fortschritte in der Roboter-Technologie werden in Zukunft noch mehr Industriejobs vernichten. Autonome Fahrzeuge könnten in den USA in den kommenden Jahrzehnten fünf Millionen Berufskraftfahrer aus dem Arbeitsmarkt verdrängen: Vor allem die Jobs von Taxifahrern, Busfahrern und Lkw-Fahrern sind bedroht.

3. Zerbröselnde Infrastruktur

Nichts ist Augen öffnender als ein Flug vom heruntergekommenen New Yorker Flughafen La Guardia zum hochmodernen Flughafen in Shenzhen in Südchina. Um von Manhattan oder Brooklyn nach La Guardia zu gelangen, fährt der Flugpassagier zuerst mit rumpelden U-Bahnzügen und dann mit einem laut brummenden Flughafenbus - in Shenzhen angekommen, geht es vom Terminal mit der hochmodernen U-Bahn direkt ins Zentrum. Amerika, ein Kontinent, der mit modernen Einsenbahnen erschlossen wurde und dessen Netz an Highways das Rückgrat für Mobilität und damit den Nachkriegswohlstand des Landes in den 1950er Jahren bildete, hat in Sachen Verkehrsinfrastruktur längst den Anschluss verloren.

Die öffentlichen Nahverkehrssysteme in den großen Metropolen sind lachhaft, das Eisenbahnnetz hoffnungslos überaltert. Für eine Generalsanierung der öffentlichen Infrastruktur im Land findet das Weiße Haus mit ziemlicher Sicherheit willige Partner im US-Kongress: Denn welcher Senator oder Abgeordnete des Repräsentantenhauses verspricht seinen Wählerinnen und Wählern nicht gerne leistungsfähigere Brücken und Straßen, öffentliche Verkehrsmittel, U-Bahnen und Eisenbahnverbindungen.

4. Russland-Reset: Neue Beziehungen zu Putin?

Russlands Präsident Wladimir Putin hat es in den vergangenen Jahren meisterlich verstanden, sich auf die internationale Bühne zurückzudrängen. Ohne Russland geht derzeit nichts: Moskau kann in der Ost-Ukraine die Spannungen nach Belieben hinauf- oder hinunterregeln, ohne Moskau ist eine Lösung des Syrien-Konflikts derzeit undenkbar.

Die Beziehungen zwischen Moskau und Washington sind schlecht wie seit langem nicht. Barack Obama war während seiner Präsidentschaft um einen Reset der Beziehungen bemüht: Vor allem seinem Außenminister John Kerry gelang es, eine belastbare Vertrauens- und Verhandlungsbasis zu seinem Gegenüber Sergei Lawrow herzustellen und den Atomstreit mit dem Iran zu lösen.

In Syrien haben Washington und Moskau zwar denselben Hauptfeind - nämlich den sogenannten Islamischen Staat (IS) -, aber unterschiedliche Verbündete. Washington ist ein enger Partner Riads, und Saudi-Arabien unterstützt in Syrien (und auch im Irak) vor allem sunnitische Gruppen.

Moskau wiederum steht im Syrien-Konflikt auf derselben Seite wie Saudiarabiens Erzfeind, der Iran: Beide Verbündete unterstützen den syrischen Machthaber Bashar al-Assad. Moskau geht es mit dem militärischen Engagement in Syrien vor allem darum, seinen Einfluss im östlichen Mittelmeerraum zu wahren. Stürzt Bashar al-Assad, dann verliert Moskau die wichtige Marinebasis in Tartus. Die militärischen Abenteuer Putins haben unfreiwillig der US-dominierten Militärallianz Nato neuen Auftrieb gegeben. Zuletzt flogen russische Bomber von Skandinavien bis zur nordspanischen Küste. Abfangjäger von Nato-Mitgliedsländern entlang der Flugroute wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Es gibt zwei Denkschulen in Washington: Die eine Seite will ausloten, ob Moskau mit diplomatischen Mitteln zu einem weniger konfrontativen Kurs gegenüber dem Westen bewegt werden kann, die andere Seite glaubt an eine Politik der Härte gegenüber dem Kreml.

5. Das pazifische Zeitalter hat begonnen

Die USA sind eine pazifische Macht: Von San Francisco nach Shanghai ist es nur unwesentlich weiter als von San Francisco nach Wien. Zudem hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten der wirtschaftliche Schwerpunkt immer mehr an die Westküste verlagert. Eines der wichtigsten Werke des US-Flugzeugherstellers Boeing befindet sich in Seattle, im Bundesstaat Washington; das Herz der amerikanischen Hi-Tech-Industrie (Google, Apple und Co) schlägt im Silicon Valley, nicht weit von San Francisco, Kalifornien. Die US-Unterhaltungsindustrie hat ihren Hauptsitz in Los Angeles.

Die größte geopolitische Herausforderung für die USA ist der Aufstieg Chinas: Die Herausforderung des Riesenreiches für die USA ist groß - das Land wird langfristig eine globale Führungsrolle für sich beanspruchen. Barack Obama hat zwar die Asien-Politik zur Chefsache erklärt, seine Administration wurde aber immer wieder ins Chaos in Nahost hineingezogen: Der Arabische Frühling erforderte die volle Aufmerksamkeit der US-Diplomatie. Frankreich und Großbritannien zerrten die USA in ein unüberlegtes militärisches Abenteuer in Libyen. Währenddessen konnte China sein Netz an Beziehungen in Asien enger knüpfen: Die Philippinen - einst wichtiger US-Verbündeter - rücken unter dem erratischen und autoritären Präsidenten Rodrigo Duterte immer weiter von Washington ab. Jakarta muss sich mit Peking arrangieren, genauso wie Malaysia. China lässt in der autonomen Stadt Hongkong immer mehr die Muskeln spielen. Südkorea wiederum ist nicht daran gelegen, die engen Wirtschaftsbeziehungen zu China aufs Spiel zu setzen. Japan - wo derzeit rund 50.000 US-Soldaten stationiert sind - ist da ein verlässlicherer Partner. Indien ist zu groß und als Atommacht zu mächtig, als dass es bereit wäre, in eine Vasallenrolle für die USA in Südasien zu schlüpfen. Pakistan war stets ein wichtiger US-Verbündeter, wird aber auf längere Sicht immer mehr in den Orbit Chinas gezogen - erst recht, da die Bande zwischen Erzfeind Indien und den USA enger werden. Nordkorea, das seit Jahren über Atomwaffen verfügt, ist derzeit die wohl gefährlichste Bedrohung für Sicherheit und Stabilität in Ostasien.

6. Weltsystem- und Klimakrise

Das von den USA ersonnene Weltsystem der Nachkriegsära ist in einer Dauerkrise: Der UN-Weltsicherheitsrat ist dysfunktional und die Bretton-Woods-Institutionen (Währungsfonds und Weltbank) verlieren an Einfluss. Reformen wären unumgänglich aber zugleich unwahrscheinlich. Der Welt droht aufgrund des Klimawandels die gefährlichste Umweltkrise der jüngeren Menschheitsgeschichte. Diese Herausforderung ist nur in Kooperation der globalen Mächte zu meistern: Aber an eine derartige Zusammenarbeit ist derzeit nicht zu denken.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die US-Wahl ist immer ein globales Ereignis, diesmal wohl ganz besonders. Wird Hillary Clinton die erste weibliche Präsidentin? Gelingt dem "Anti-Politiker" Donald Trump die Sensation? Und was wird das alles für Europa und die Welt bedeuten? Die "Wiener Zeitung" wird aktuell und live die Wahlnacht vom 8. auf den 9. November begleiten – auch mit ersten Analysen, Reportagen und Kommentaren.

Unter wienerzeitung.at halten wir Sie die ganze Nacht auf dem Laufenden – und freuen uns, Ihnen eigene Stories dazu anbieten zu dürfen.


Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Göweil
Chefredakteur