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Wutbürger in Chief

Von Thomas Seifert

Politik

Essay: So wenig Zukunft war noch nie - Die radikale Mitte verfällt in Panik, die liberale Demokratie wankt.


Washington/Moskau/Wien. "Wir wissen die Zeiten sind mies. Schlimmer als mies. Sie sind verrückt geworden. [...] Ich weiß nicht, was man gegen die Wirtschaftskrise tun kann, gegen die Inflation oder gegen die Russen oder das Verbrechen auf den Straßen. Ich weiß nur, dass ihr erst mal wütend werden müsst."

Der TV-Wutmoderator und Fernseh-Prophet Howard Beale, von dem diese Brandrede stammt, existiert nur im Film, genauer in Sydney Lumets Meisterwerk aus dem Jahr 1976, "Network". Die Einschaltquoten von Beales Sendung schießen nach seinem Wutausbruch durch die Decke, er steigt zum Helden des Publikums auf, der ihrem Frust eine Stimme verleiht.

Der Wüterich Beale wendet sich in seiner filmischen Brandrede an eine radikale Mitte, an satte, aber verzagte Wohlstandsbürger mit Toaster, Riesenkühlschrank und Fernsehgerät, denen es scheinbar an nichts mangelt, zumindest noch nicht. Und doch fehlt eines: Zuversicht in die Zukunft.

Dieses Gefühl der Wut des Mittelstands, der Sandwich-Klasse zwischen Proletariarier und Kapitalist, wurde schon in den 1930er Jahren beschrieben. Das Proletariat war damals rastlos und fühlte sich hingezogen zur Revolte, die Kapitalisten leckten ihre von der Weltwirtschaftskrise geschlagenen Wunden. Die junge Weimarer Republik, aber auch die erste Republik taumelten zwar, aber noch hielt der gesellschaftliche mittelständische Kitt. Der später nach Dänemark emigrierte deutsche Soziologe Theodor Geiger schrieb im Jahr 1930 unter dem Titel: "Panik im Mittelstand" in der "Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde - Die Arbeit": "Der Mittelstand macht zumindest den Versuch, sich revolutionär zu geben. Er hat den maßvollen goldenen Mittelweg satt. Droht Konterrevolution? Allem Anschein nach: nein. So beginnt keine Revolution des Mittelstandes, auch wenn die Stimmung dafür besteht." Geiger sollte sich irren: Zu einer Revolution bedürfe es "einer aufbauenden Idee", das Dritte Reich sei aber eine "leere Phrase", schrieb er. 1933, drei Jahre später: Die Machtergreifung Adolf Hitlers.

Und heute? Die Zeit von Adolf Hitler, Benito Mussolini, Spaniens General Francisco Franco, dem Portugiesen António de Oliveira Salazar oder dem Austrofaschisten Kurt Schuschnigg ist längst vorbei. Derzeit versammelt sich aber ein immer dichter besetztes Ensemble an nostalgischen Nationalisten auf der politischen Bühne: Donald Trump, Wladimir Putin, Marine LePen, Geert Wilders, Viktor Orbán, Jaroslaw Kaczynski, Heinz Christian Strache und Norbert Hofer. Die Mittelschicht ist tief verunsichert, zuletzt hat der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump die "Hyperwut" in der amerikanischen Gesellschaft entfesselt, wie es der republikanische Wahlforscher Frank Luntz im "Spiegel" formulierte.

Der deutsche Soziologe Heinz Bude schreibt in seinem Buch "Gesellschaft der Angst" vom Gefühl der "prekären Privilegiertheit" leitender Angestellter, die nicht wissen "wie lange trägt, was einem ein auskömmliches Einkommen und gehobene Wertschätzung garantiert" und die längst in den Zustand latenter Statuspanik verfallen sind.

Stehen wir heute an einer "Abbruchkante der Zeit", wie der deutsche Philosoph Immanuel Kant über die Zeit der Französische Revolution sagte? An der Abbruchkante einer Zeit, in der eine gut erzählte Lüge besser verfängt als schnöde Fakten? In einer Zeit, in der "das, was den Westen ausmacht, die Freiheit, als bedrohlich empfunden wird", wie der stellvertretende Chefredakteur des "Spiegel", Dirk Kurbjuweit, urteilt? In einer Zeit, in der das Amerikanische Jahrhundert langsam zu Ende geht und die pazifische Epoche beginnt?

Lebende Handgranate Trump

In einer solchen Zeit hat die radikale Mitte (und keineswegs nur rechtsextreme Rassisten und misogyne alte Männer) Donald Trump zum Wutbürger in Chief erkoren und ihn als lebende Handgranate ins Oval Office geworfen, damit er das Establishment in tausend Fetzen zerreißt. Ausgerechnet ihn, das Paradeexemplar des Establishments, der im 58. Stock seines güldenen, mit Stuck im Rokoko-Stil von Louis XIV verzierten 100-Millionen-Dollar-Penthouse-Apartments mit Blick auf den Central Park residiert. Trump, der seine Steuerunterlagen nicht veröffentlichen, aber den Spitzensteuersatz für die Reichen senken und die Gesundheitsversorgung für die Armen streichen will, sieht in den einfachen Wählerinnen und Wählern wohl bestenfalls naives Stimmvieh für die Interessen der Superreichen. Seine rechtsdemagogischen Verbündeten sind nicht viel besser: Der britische Architekt der Brexit-Katastrophe, der Rechtsdemagoge Nigel Farage war Investment-Banker, dessen Vermögen auf etwas weniger als drei Millionen Euro geschätzt wird, der Name der Chefin der Front National, Marine LePen tauchte wiederum rund um die Panama-Papers-Enthüllungen auf: Leute in ihrem Dunstkreis waren mit mysteriösen Geldtransaktionen aufgefallen. Gegen Front National Parteigründer Jean-Marie LePen, wurde wiederum wegen eines 2,2-Millionen-Euro-Schwarzgeldkontos in der Schweiz ermittelt. Die Superreichen und Steuervermeider als Anwälte der Ärmsten und der Normalbürger? Nein. Trump-Wähler waren im Mittel wohlhabender als jene von Clinton. Doch Trump war das Unmögliche gelungen: Mit antikapitalistischer Kampfrhetorik gerierte der Multimilliardär sich als linker Revoluzzer gegen die Macht- und Geldeliten und mit rassistischen Reden und frauenfeindlichen Äußerungen machte er gleichzeitig den rechtsextremen sexistischen Rassisten Avancen. Donald Trumps Wahlkampagne war so, als hätte sie Anleihen bei Wladimir Putins genialen Strippenzieher Vladislav Surkov genommen. Der frühere Theater-Mann war bis 2011 Putins politischer Technologe. Seine Strategie war es, den politischen Gegner und die Öffentlichkeit zu verwirren, verschiedene politische Positionen zu besetzen, bis niemand mehr wusste, wo man stand und somit auch nicht mehr angreifbar war.

Für die Verteidiger der liberalen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft sind Trumps Methoden und Trumps Wahlsieg ein Weckruf. Das amerikanische politische System ist verkommen; und das seit Jahren, eine Pluto- und Vetokratie, Republikaner und Demokraten sind zum Wünsch-Dir-Was für mächtige Lobbies geworden. Der amerikanische Traum ist - da hatte Trump ausnahmsweise recht - für viele US-Bürger längst ausgeträumt. Doch warum sollte sich daran ausgerechnet unter Trump etwas ändern?

Hypernormalisierung

Die Vergangenheit hält wertvolle Lektionen bereit. Der russische Linguist an der Universität Berkeley prägte in seinem Buch aus dem Jahr 2005 "Everything Was Forever, Until It Was No More" über die letzten Jahre der Sowjetunion den Begriff der "Hypernormalisierung". Hypernormalisierung - das ist so zu tun, als wäre alles ganz normal, auch wenn die Dinge längst ins Rutschen gekommen sind. Hypernormalisierung, das ist, wenn alle längst gewusst haben, dass die kommunistische Partei die Kontrolle über die Wirtschaft verloren hat, aber alle weiter mitspielten, nachdem es keine Alternative gab. Der BBC-Journalist Adam Curtis präsentierte erst unlängst seinen Film "Hypernormalisation", in dem er Parallelen zur Gegenwart herstellt: "Wir wissen, dass die Eliten wissen, dass wir wissen, dass sie Milliarden von Dollar und Pfund in die Wirtschaft pumpen und die Konjunktur sich dennoch entlang er Nulllinie bewegt." Politiker wie Putin und Trump sind die perfekten Politiker der Hypernormalisierung - sie personifizieren einen Zustand, an dem längst alles ins Rutschen gekommen ist, man aber so tut, als ginge alles den ganz normalen Gang.