Zum Hauptinhalt springen

Das geschundene Dorf

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

Friedensvertrag zwischen Regierung und FARC-Guerilla abgesegnet. Besuch in einem Dorf, das enorm unter dem Bürgerkrieg gelitten hat.


Toribío. Gabriel Pavi hat wieder eine Morddrohung erhalten. "Dreifacher Hurensohn" wird er in dem Schreiben genannt. "Dein Leben ist in unseren Händen!" Unterzeichnet ist die Drohung von den Aguilas Negras - Schwarze Adler. So nennt sich eine rechtsgerichtete paramilitärische Organisation, die in Kolumbien für ihre Brutalität berüchtigt ist. Rund 70 Menschen haben Gruppen wie sie in diesem Jahr in Kolumbien ermordet. Die Opfer: Menschenrechtler, Umweltaktivisten, Bauernführer. Menschen wie Gabriel Pavi.

Pavi heftet das Schreiben zu den anderen Morddrohungen, die dieses Jahr im Sitz der indigenen Selbstverwaltung im kolumbianischen Bergdorf Toribío eingetroffen sind. Zwei stammen von den Aguilas Negras. Eine andere, per Hand verfasste Drohung kommt von Anhängern der linken Farc-Guerilla. Sie warnen, dass am Dorfplatz Explosivstoffe in die Luft fliegen könnten. Ein weiteres Schreiben stammt von der "Sechsten Front" der Farc-Guerilla selbst. Eine Kollegin von Pavi wird darin zum "militärischen Ziel" erklärt, weil sie mit dem Staat kooperiere. "Wir standen schon immer zwischen allen Fronten", sagt Pavi. "Sogar jetzt noch, wo der Frieden an die Tür klopft."

"Wir wollten Krieg hier nicht"

Pavi, ein kompakter Mann von 48 Jahren, trägt einen dürren Schnauzer und ein weißes Leinenhemd mit buntem Kragen. Er ist Koordinator der Guardia Indigena, der Indio-Wache von Toribío, einer Art Lokalpolizei - mit einer Besonderheit: Sie wurde von Indios des Nasa-Volks gegründet und ist einzig mit Holzstöcken ausgerüstet. Die traditionellen Stöcke sind weniger Waffen als vielmehr Symbole für den Anspruch der Nasa, Herren über ihr Land zu sein. "Wir wehrten uns gegen die Farc und das Militär gleichermaßen", sagt Pavi. "Wir wollten den Krieg hier nicht!"

"Dank der Stöcke hat Toribío den Krieg überlebt", sagt Pavi. "Aber jetzt beginnt die Zeit danach. Die Zeit des Post-Konflikts." Es scheint, als ob sie schwieriger werden könnte als der Krieg selbst.

Kolumbien erlebte am Mittwochabend einen historischen Moment: Der Friedensvertrag zwischen Regierung und Farc-Guerilla wurde vom Parlament abgesegnet und kann in Kraft treten. Nachdem das Volk eine erste Version des Friedensvertrages im Oktober abgelehnt hatte, wurde er nun überarbeitet. Sondertribunale können nun geständige Täter zu bis zu acht Jahren Haft verurteilen - in vielen Fällen soll aber auch Hausarrest möglich sein. Die Farc soll ihre Waffen abgeben, darf dafür aber nun am politischen Leben teilnehmen und erhält zunächst fünf Mandate im Parlament.

In Toribío hatten 80 Prozent der Wähler bereits für die Annahme des ersten Vertrags gestimmt. "Für uns war der Sieg des ‚Nein‘ ein Schock", sagt Gabriel Pavi. "Viele weinten. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Menschen gegen den Frieden stimmen." Nun gibt es endlich den ersehnten Friedensvertrag.

Besonders die kolumbianischen Ureinwohner litten unter dem Konflikt, weil sie von allen Seiten als potenzielle Feinde angesehen wurden. Der Staat und die Paramilitärs betrachteten sie wegen ihrer kollektiven Strukturen und ihrer Armut als potenzielle Rekruten der marxistischen Farc. Der Guerilla aber widersetzten sich die Indios, weil sie deren strenge Hierarchie und marxistische Doktrin ablehnten. Viele Dörfer wurden zwischen beiden Seiten regelrecht aufgerieben. Ihre Bewohner flüchteten in die Städte und leben dort bis heute in Armenvierteln.

Im Grunde war auch Toribío ein typischer Kandidat, um zu sterben. "Dies ist das meistgeschundene Dorf Kolumbiens", sagt Alcebíades Escué. "Um keinen Ort wurde mehr gekämpft." Escué, ein kleiner Mann mit rundlichem Gesicht, ist der Bürgermeister von Toribío. Der Ort, erklärt er, liege an einer strategisch wichtigen Position zwischen den Anden und der Pazifikregion. Das Dorf auf knapp 2000 Metern Höhe sei ein Transitpunkt. Auch für den Drogenschmuggel.

Umgeben ist Toribío von mächtigen Bergen, die mit fruchtbaren Böden gesegnet sind: Bananen wachsen hier, Mangos, Maracujas, Kartoffeln und Tomaten. Das meiste wird von Kleinbauern angebaut, die sich selbst versorgen und denen nur wenig Geld übrig bleibt. Beim Durchwandern der Anden stößt man auch auf Coca-Felder und Cannabisplantagen, deren süßlicher Duft die Luft schwängert. Sogar Schlafmohn, der Grundstoff für Heroin, gedeiht in diesem Teil des Gebirges.

In weiten Teilen der Anden war die Farc jahrzehntelang die einzige Ordnungsmacht. "Es war Ehrensache, einen Sohn oder eine Tochter bei den Farc zu haben", sagt Escué. Man fürchtete nicht die Guerilla, sondern den Staat, der die Interessen der Großgrundbesitzer durchsetzte.

Lange Zeit stritten die Farc für die Kleinbauern und für eine gerechte Verteilung des Bodens. Aber irgendwann griffen sie zu Mitteln, die die Zwecke nicht mehr rechtfertigten: Entführungen Unschuldiger, Zwangsrekrutierung, Drogenhandel. Die Nasa-Indios wollten sich der Gewaltherrschaft nicht unterwerfen. "Die Farc sind autoritär. Sie haben keine Beziehung zur Mutter Natur", sagt Escué. "Bei den Marxisten kommt alles vom Kopf, bei uns von Herzen." Der Klassenkampf der Guerilla prallte auf die jahrtausendealte Kosmologie der Ureinwohner.

Umso mehr, weil die Nasa eine Philosophie entwickelt haben, die sie "Lebensplan" nennen. "Sie vereint Werte wie Gegenseitigkeit, Prinzipien wie Spiritualität und Träume wie intakte Familien", sagt Escué. "Für Kalaschnikows ist darin kein Platz."

So wuchs rund um Toribío die Rivalität zwischen der Farc und den Nasa. Bis die Guerilla die indigene Verwaltung zum Feind erklärte. Die Nasa wiederum gründeten die Guardia Indigena, die Checkpoints errichtete und mit ihren traditionellen Chonta-Stöcken patrouillierte. Das Ziel war es, bewaffnete Gruppen fernzuhalten. Der Traum: eine Gemeinde ohne Krieg.

"Der Krieg war meist stärker" sagt Bürgermeister Escué. Rund ein Dutzend Mal gelang es den Farc, Toribío in den letzten Jahren einzunehmen. Die Armee schlug jedes Mal rücksichtslos zurück. "Die Soldaten behandelten uns wie Feinde. Sie behaupteten, wir würden mit den Farc gemeinsame Sache machen", sagt Escué. Er zeigt auf eine Bergspitze hoch über Toribío. Sie heißt Berlin. Dort errichtete das Militär eine Basis, von der die Soldaten auf einfache Bauern schossen. Sie steckten sie in Farc-Uniformen und meldeten neue Erfolge im Kampf gegen die Guerilla. Damals mussten die Soldaten die "Abschussquoten" erfüllen, die der ehemalige Präsident Àlvaro Uribe ausgegeben hatte.

Mit Ex-Präsident Uribe, der das Friedensabkommen bis heute erbittert bekämpft, hat Escué seine eigenen Erfahrungen gemacht. Er behauptete einmal, Escué hätte den Farc Geld gegeben. "Es war wie ein Todesurteil für mich", sagt der Bürgermeister. Dank der Lüge geriet Escué ins Visier rechter Paramilitärs, die von Großgrundbesitzern finanziert werden und Jagd auf jeden machen, den sie für einen Kommunisten halten. Bis heute terrorisieren sie die Ebenen Caucas mit ihren ausgedehnten Zuckerrohrplantagen. "Wenn ich ins Tal fahre", sagt Escué, "muss ich fürchten, von den Paras entführt zu werden."

Cannabis statt Bohnen

Um Mitternacht stellen sich die Männer und Frauen am Checkpoint Belén im Schein ihrer Taschenlampen zum Halbkreis auf. Der Stützpunkt befindet sich an einer staubigen Zufahrt nach Toribío, der Schlagbaum ist hochgeklappt. In der Dunkelheit erstattet einer der Männer Lagebericht. Er sagt, dass an einer anderen Kontrollstelle Motorraddiebe gefasst worden seien. Außerdem hätten vier Vermummte ein Mitglied der Nasa-Verwaltung überfallen und sein Handy geraubt. Darauf: die Nummern sämtlicher Nasa-Führungskräfte. Es gelte erhöhte Wachsamkeit, man vermute Paramilitärs hinter der Aktion, die versuchten, sich in der Region breitzumachen.

Die rund zwölf Wachen fassen ihre Chonta-Stöcke fester - als mit einem Schlag auf den Hängen rundherum die Lichter angehen. Tausende LED-Lampen erhellen die über die Berge verteilten Cannabis-Felder. Sechs Stunden zuvor war das Licht in der gesamten Region abgeschaltet worden. So wie jeden Abend. Da viele Cannabisbauern den Strom illegal abzweigen, kappt ihnen das zuständige Energieunternehmen die Zufuhr - und bestraft die Nasa kollektiv mit Dunkelheit.

Der Cannabis-Anbau zu medizinischen Zwecken ist in Kolumbien zwar erlaubt. Aber das meiste Cannabis rund um Toribío ist für den Drogenkonsum bestimmt. Es kommen Zwischenhändler aus der Ebene, die ganze Ernten aufkaufen. Von der Indioverwaltung wird der Cannabis-Anbau nicht gern gesehen. Aber was solle man machen, sagen die Nasa-Wachen, wenn für ein Kilo Marihuana umgerechnet 15 Euro gezahlt werde, während das Kilo Bohnen eben nur zwei Euro bringe. Es sind die alten Widersprüche Kolumbiens, die auch mit dem Friedensabkommen nicht verschwinden werden. Dass sie mit Waffen nicht lösbar sind, hat der kolumbianische Bürgerkrieg bewiesen.

Nach über 50 Jahren Konflikt ist der historische Friedensvertrag zwischen Kolumbiens Regierung und der Farc-Guerilla am Mittwochabend endgültig beschlossen worden. Nach dem Senat billigte auch das Parlament das Abkommen, das damit nun in Kraft tritt. Das Ergebnis: 130 Ja-Stimmen, keine Gegenstimme, wobei die Gegner des Abkommens der Abstimmung fernblieben.

Seit 2012 war verhandelt worden. Ende September wurde eine erste Version unterzeichnet. Dann aber lehnte das Volk das Abkommen in einem Referendum mit knapper Mehrheit ab - eine Zustimmung nur des Kongresses hätte gereicht, aber Präsident Juan Manuel Santos wollte den größtmöglichen Rückhalt.

Der Vertrag wurde nun überarbeitet, Strafregelungen wurden verschärft, zudem soll das Vermögen der Rebellen, die sich über den Drogenhandel finanziert haben, zur Entschädigung der Opfer herangezogen werden. Wenn nun alles glattgeht, sollen die 5800 Kämpfer noch in diesem Jahr mit der Abgabe der Waffen beginnen.

DEr FriedensVertrag