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"Wir haben unseren Schatz verloren"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik
Nehla mit ihrer zehnjährigen Tochter Mariam im Flüchtlingslager "Jungfrau Maria" in Bagdad.
© Birgit Svennson

Die Christen im Flüchtlingslager "Jungfrau Maria" in Bagdad wollen nicht nach Karakosch zurückkehren, obwohl die Stadt kürzlich befreit wurde. Die Zerstörung ist allumfassend, das Misstrauen gegenüber den Sicherheitskräften groß.


Bagdad. "Ich gehe nicht zurück", schüttelt Jussef mit dem Kopf, zieht ein Kreuzass aus der Hand und legt die Karte auf den Tisch. Auch die anderen Männer nicken. Am Nebentisch dieselbe Reaktion auf die Frage, ob sie jetzt zurückkehren nach Karakosch, die Christenstadt im Nordirak, die Anfang November von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) befreit wurde. Bis jetzt sei noch niemand von hier wieder zurückgegangen. "In Karakosch kann man nicht mehr leben", so die einhellige Meinung in der Cafeteria des Flüchtlingslagers. Jeder der Anwesenden war zwar schon dort, hat nach Haus und Hof geschaut, um dann ernüchtert wieder nach Bagdad zurückzukommen. Videos auf Smartphones machen die Runde. Darauf zu sehen sind Trümmer, zerbrochenes Porzellan, zerfetztes Spielzeug, heruntergebrochene Zimmerdecken, zerbombte Dachstühle. Die Resignation darüber findet beim Kartenspiel ein Ventil. "Wenigstens hierbei sind wir manchmal auf der Siegerseite." Ansonsten hätten sie alles verspielt, besser gesagt verloren. "Karakosch war ein Schatz für uns", sagen Jussef und seine Mitspieler, "den wir unwiederbringlich verloren haben." Die Barbaren des IS hätten den Ort entweiht.

Das Flüchtlingslager "Jungfrau Maria" wurde nur für Christen eingerichtet und befindet sich mitten in Bagdad. Der christliche Abgeordnete im irakischen Parlament, Yonadam Kanna, hat das Grundstück neben dem Hauptquartier seiner assyrischen Partei von der Stadt gemietet, als immer mehr Christen aus dem Nordirak vor dem IS fliehen mussten. Seit April 2015 sind sie hier. 150 Familien, etwa 800 Menschen, davon 100 Kinder im schulpflichtigen Alter. Eileen leitet das Lager, eine rundliche, herzliche Frau Ende 30. Insgesamt, sagt Eileen, gäbe es 550 christliche Flüchtlingsfamilien in Bagdad. Die meisten seien privat untergekommen, bei Freunden, Familienangehörigen oder Bekannten. "Die, die niemand kennen, sind hierher gekommen." Die meisten von ihnen stammen aus Karakosch.

Nehla ist mit ihrer zehnjährigen Tochter Mariam in der kleinen Küche ihres Wohnwagens und bereitet das Mittagessen vor. Die Tür ihrer Behausung steht weit offen. Die Wintersonne wärmt besonders in der Mittagszeit, nachts ist es in Bagdad derzeit bitterkalt. Ihr Name bedeute so viel wie "nimm das Wasser", erklärt Nehla und bittet die Besucher mit einer Wasserflasche in der Hand in eines ihrer beiden Zimmer. Jede Familie im Camp hat einen weiß-blau angestrichenen Karavan mit zwei Schlafzimmern, Küche und Bad.

Christenghetto in Nineve

Ursprünglich stammen Nehla, ihr Mann und die zwei Kinder aus Bagdad, erzählt die 41-Jährige. Sie hatten eine Autowerkstatt in Sara, einem südlichen Stadtteil der Hauptstadt, da, wo der Tigris in einer Schleife fließt. Als der Bürgerkrieg 2006 begann, Schiiten und Sunniten sich gegenseitig umbrachten, gerieten die Christen zwischen die Fronten. "Mein Mann bekam einen Drohbrief, wir sollten die Stadt verlassen." Nachdem Nehlas Bruder umgebracht wurde, kurz nachdem er ein Restaurant eröffnet hatte, beschlossen sie, zu gehen. Nehlas Mann gab sein Geschäft auf, sie kündigte die Wohnung. Die Familie zog nach Karakosch. Die damalige Kleinstadt in der Nineve-Ebene, auf halber Strecke zwischen der Kurdenmetropole Erbil und der damals noch zweitgrößten Stadt Iraks, Mossul, versprach ein sicherer Hafen für bedrohte Christen zu sein. Innerhalb kurzer Zeit wuchs Karakosch von ehedem 25.000 Einwohnern auf das Doppelte an. Eine Mauer wurde um die Stadt gezogen, ein einziger Checkpoint errichtet, der von kurdischen Peschmerga-Soldaten kontrolliert wurde.

Kritische Zungen sprachen vom Christenghetto in Nineve. Doch die Einwohner fühlten sich beschützt und sicher. So auch Nehla und ihre Familie. Wohnten sie anfangs noch bei Verwandten, fanden sie dann schnell eine eigene Bleibe und bauten ein bescheidenes Haus. Ihr Mann reparierte Autos, es ging aufwärts.

Doch dann kam der IS und nahm buchstäblich über Nacht "Hamdaniya", wie Karakosch auf Arabisch heißt, ein. Panikartig hatten kurz vor dem Angriff fast alle Einwohner die Stadt verlassen. "Wir hatten einen Tipp bekommen, dass sie angreifen werden", begründet Nehla die übereilte Flucht. Als die Dschihadisten kamen, war Karakosch leer. Die kurdischen Peschmerga-Wachen am Checkpoint seien schon weg gewesen, als die Christen flohen. Sie waren schutzlos. Offen sagt das niemand, aber hinter vorgehaltener Hand werden die Kurden beschuldigt, ihr Versprechen Karakosch zu schützen, gebrochen zu haben. Auch deshalb will niemand zurückgehen. Das Misstrauen gegen die Sicherheitskräfte sitzt tief, auch wenn jetzt offiziell die irakische Armee Karakosch zurückerobert hat, um Ressentiments gegenüber den Kurden auszubalancieren.

Am Anfang, sagt Lagerbetreuerin Eileen, hätten sie viel Hilfe bekommen. Alle großen Hilfsorganisationen seien tätig geworden, hätten Strom in jeden Wohnwagen gelegt, Luftbefeuchter installiert, Treibstoff für die Generatoren besorgt, Kinderspielplatz und Kindergarten finanziert. Jetzt gäbe es kaum noch Hilfsbereitschaft. Eileen meint, es seien wohl zu viele Flüchtlinge im Irak unterwegs. "Die Hilfe konzentriert sich alles auf Mossul." Nehla und ihre Mutter haben angefangen, das traditionelle Essen "Kubbah" herzustellen, das aus Bulgur gemacht wird und entweder wie Klöße oder Frikadellen aussieht. In der Küche eines Wohnwagens des "Jungfrau-Maria-Camps" brodelt und brutzelt es in den Pfannen. Bescheidene Aufträge für hausgemachtes Kubbah kämen auch von außen. "Aber es reicht nicht, um uns über Wasser zu halten." Nehlas Mann hat eine Arbeit als Fahrer für einen Alkoholgroßhändler gefunden, ein Geschäft, das nur Christen vorbehalten ist. Muslime bekommen im Irak keine Genehmigung zur Herstellung, zum Import oder Verkauf von Alkohol. Anfang November hat das irakische Parlament mit einer schiitisch-muslimischen Mehrheit für ein landesweites Alkoholverbot gestimmt. Die Christen bangen nun um die nächste Domäne ihrer Existenz. Christenpolitiker Yonadam Kanna will vor den Obersten Gerichtshof ziehen und gegen das Verbot klagen.