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Was von Aleppo bleibt

Von WZ-Korrespondentin Petra Ramsauer

Politik

Wer den Krieg hier erlebte, kommt verändert zurück. Wer dort war, erlebte schonungslos, wie es ist, wenn einen nichts und niemand schützt - und ahnt, wie viel an Zerstörungskraft der zerbombte Osten der syrischen Metropole hinterlässt.


Aleppo/Wien. "Nennen Sie mich bitte Dr. Omar. Und fotografieren Sie mich nur von hinten", sagte der junge Arzt in dem Spital gleich neben der Altstadt. Er formulierte die Bitte ohne einen Funken Pathos oder Panik: "Sie wissen es ja. Ärzte, die aufseiten der Opposition arbeiten, gelten in den Augen des Regimes als Terroristen. Wenn der Osten Aleppos fällt, bin ich in großer Gefahr. Dann töten sie mich, wenn sie mich erkennen und finden." Das sagte er im Juli 2013.

Ständig war in dem von der Opposition gehaltenen Teil der Stadt diese dunkle Ahnung im gedanklichen Blickfeld: "Wenn Aleppo fällt, dann..." Hunderte Male habe ich den Satz während meiner Reisen in die Stadt gehört und all die Horrorszenarien, die sich die Menschen dazu ausmalten. So richtig fassen konnte das, was nach dem Wort "dann" kam, aber niemand. Bis jetzt.

"Dr. Omar" bat mich, ihn auf das Dach des Krankenhauses zu begleiten. Von hier aus war das zweite Leitmotiv des Konflikts zu sehen. Die Teilung Syriens, die brutale Bruchlinie durch das Land. Jetzt ist sie einzementiert, doch auch damals war sie schon zum Greifen. "Da ist die Zitadelle. Da sind die Regimetruppen. Es ist nicht einmal ein Kilometer. Dort stehen sie", sagte er.

Niemandsland, Anarchie, dünne Fassade der Normalität

Rund um das Spital waren die Straßenzeilen schon damals in sich gesunken. Sofas ragten aus den Ruinen. "Zwei Mal hätten sie uns gestern fast getroffen", sagte Dr. Omar. Mit "sie" meinte er gesichtslose Andere. Ein Regime, das seinen Tod will. Mit jedem Tag würden sich "die Anderen", die dort leben, ein Stück weiter von ihm entfernen. Sie als gesichtslose Terroristen wahrnehmen.

Er stellt mir Kinder vor, die er behandelte. Einen Fünfjährigen, der halb verschüttet war und dem nun droht, dass er sein Bein verliert. Eine 13-Jährige mit einem Leberriss. Ein Metallteil jener Fassbomben, die unberechenbar und in immer höherer Frequenz hier einschlagen, hat ihr Organ zerfetzt. Die letzte Dosis Antibiotika habe er ihr gegeben. Für die vielen Patienten, denen er Arme oder Beine amputieren muss, "habe ich Schmerzmittel, die in etwa so wirksam sind wie Aspirin".

Bereits damals duckte sich das Spital hinter einem Wall aus Sandsäcken. Im Nachhinein zeigte sich, dass die Ansätze des Horrors von Aleppo seit Jahren existierten. Angriffe auf Krankenhäuser, Luftangriffe, die Schutzlosigkeit, Gegenangriffe mit Sprengsätzen auf den Westen der Stadt.

"Wie dünn meine Haut ist." Das war mein erster und lange einziger Gedanke, als ganz in meiner Nähe eine dieser Fassbomben einschlug. Ich blieb stehen, wie es mir geraten wurde, als ich ein helles Zischen hörte. Es gab keinen Schutz vor Luftangriffen. Auch keine Vorwarnung. Man steht da und wartet und hofft. Es dauerte nicht lange, bis einem der Rhythmus in die Glieder fährt, das Denken prägt, das um eine Wahrheit kreist. Du bist wehrlos. Eine Staubwolke legte sich über die Kreuzung. Sie drohte jene zu ersticken, die den Angriff überlebten. Danach tasteten wir uns - mein Übersetzer und Fahrer und ich - langsam zu dem Trümmerberg vor. Ein Kind lag blutend am Boden. Es war Mahmoud, ein Bub, der Gurken verkauft hatte. Wir hatten noch vor kurzem mit ihm gesprochen.

Hier war Niemandsland. Anarchie. Verdeckt nur von einer dünnen Fassade an eilig gezimmerter Normalität. Oft auch im wörtlichen Sinn: Lein- und Tischtücher wurden über Gassen gespannt, um Schutz vor Scharfschützen zu haben. Hätte mir und den Menschen, bei meiner ersten Reise nach Aleppo, jemand erzählt, dass dies erst der Anfang der Katastrophe sein sollte, es hätte niemand für möglich gehalten. Schon damals brauchte ich Superlative, um das Ausmaß des Dramas zu beschreiben. Jetzt sind diese atemlosen Phrasen ausgeleiert.

Was ist schlimmer als das Allerschlimmste? Laut Marianne Gasser vom Internationalen Roten Kreuz, die in den vergangenen Tagen die Evakuierung der Überlebenden mit organisierte, "war es das Schlimmste, das ich je an menschlichem Leid gesehen habe". Doch so fühlte es sich schon seit Jahren an. Nur hat es kaum jemand mehr hören oder lesen wollen. Es verletzte schon damals die Menschen in Syrien am meisten. Es schien, als wäre der Krieg allen egal. Außer jenen, die ihn mit immer mehr Gewalt führten.

Kriegsrecht wird vomRecht des Stärkeren abgelöst

Die Eroberung Aleppos galt nur wenige Wochen, im Sommer 2012, als militärischer Erfolg der Opposition. Bald sackte sie in sich zusammen, an der Front in der Altstadt wurde ein erbitterter Stellungskrieg gefochten. Ohne Luftabwehr-Raketen waren die Stellungen der Rebellen den Angriffen von Kampfjets und Helikoptern faktisch wehrlos ausgesetzt. Der Kriegseintritt Russlands 2015 und der massive Zustrom von schiitischen Paramilitärs unter der Führung des Iran beschleunigten den Zusammenbruch dieser Oppositionshochburg. Ohne substanzielle Hilfe von außen war das Ende der Rebellen von Ost-Aleppo nur eine Frage der Zeit.

Die gnadenlose Angriffswelle auf 300.000 Menschen - die Hälfte von ihnen Kinder - bedeutet jetzt allerdings mehr als die Kapitulation einer Bastion des Widerstands. Sie besiegelt das Ende der Gültigkeit des geltenden Kriegsrechts - es wurde vom Recht des Stärkeren abgelöst. Die Befürchtung, dass niemand jenen hilft, die zwischen die Fronten geraten, die weder "Dschihadisten" oder Terroristen sind noch flammenden Anhänger des Regimes, ist nun grauenhafte Gewissheit. Dabei zählt zu den wenigen Wahrheiten, die ich von meinen Reisen in die Kriegsgebiete Syriens mitnehmen konnte, dass es nur eine echte Front gibt: jene zwischen den ganz normalen Menschen Syriens, die ein normales Leben in Freiheit führen wollen - und jenen, die vom Krieg profitieren. Der laute Kriegslärm, die grellen Stories von der angeblichen Stabilität, die Präsident Baschar al-Assad garantieren könnte, als Speerspitze gegen islamistische Extremisten und der Fokus auf ebendiese in der Opposition verstellten den Blick auf diese ganz normalen Menschen. Dabei spielten sie gar keine so kleine Rolle.

Den Osten Aleppos verwalteten Menschen wie Brita Haji Hasan. Der Präsident des gewählten Stadtrates, quasi Bürgermeister, der aus einer Wahl hervorgegangen war und irgendwie versuchte, einen Stadtteil ohne Staat zu organisieren. Das reichte von der Müllabfuhr bis zu Schulen, die wegen der dauernden Luftschläge meist in Kellern untergebracht waren. Genauso wie die medizinische Versorgung in Spitälern. Das auch in dramatischen Momenten wie etwa im August, als laut der Weltgesundheitsorganisation alle 15 Stunden ein medizinischer Stützpunkt unter Feuer geriet.

Es gab hunderte Fraktionen bewaffneter Kämpfer, die diesen Stadtteil kontrollierten; rund ein Drittel gehörte zu Milizen, die als radikale Extremisten einzuordnen sind. Tonangebend ist die mittlerweile umbenannte Al-Nusra-Font: Eine Einheit, die sich bis zum Sommer klar zum Al-Kaida-Netzwerk bekannt hat, das nun aber aus taktischen Gründen von sich weist.

Und es gab aber auch Persönlichkeiten wie Alamin al-Nash: Ein Richter, der versuchte, Ost-Aleppo in ein demokratisches Vorzeigeprojekt umzuwandeln - und gnadenlos scheiterte. "Die radikalen Schiiten helfen Assad, wir haben in den eigenen Reihen die Dschihadisten am Hals. Und ihr lasst uns fallen, weil es heißt, wir sind eh alle Extremisten. Bravo," sagte er in einem Interview, das er brüllend beendete. Auf meine Frage, was denn aus der modernen Opposition geworden sei, knallte er mir einen Entwurf für eine neue, nun rechtsstaatliche Ordnung vor die Nase: "Da hast du die Antwort!"

Das sei der Bauplan für ein neues, demokratisches Syrien. "Das wollt ihr doch. Aber wo zum Teufel seid ihr? Ihr Europäer, ihr Amerikaner. Warum lasst ihr uns im Regen stehen: Wir, die für eine Reform in diesem Land alles riskiert haben?" Wieso würden nur die Extremisten von ihren Freunden am Golf Geld und Waffen bekommen? Auch diese Worte fielen bereits 2013, vor drei Jahren.

Schon 2014 jetzt kostetein Liter Treibstoff zwei Euro

Solchen Leuten fehlte das Geld, um "ihr" Aleppo zu verteidigen und zu organisieren. Hautkrankheiten, Durchfallerkrankungen, Atemweginfekte breiteten sich wie Epidemien aus. Schon 2014 kostete ein Liter Treibstoff an die zwei Euro. Ohne Diesel lief aber nichts mehr. Kein Kühlschrank, kein TV-Gerät. Keine Lampe.

Es fühlt sich an, als wäre der Westen der Stadt, wo zwei Millionen Menschen wohnen, weiter studieren, ihre Kinder in reguläre Schulen bringen, abends ins Kino gehen, Galaxien entfernt. "Ich mache mir riesengroße Sorgen, wie dieses Land je wieder zusammenwachsen kann", sagte mir John Kahler, ein Kinderarzt, der in der Stadt aushalf, als im heurigen Sommer aus der schon großen Katastrophe eine noch größere wurde: "Aleppo verändert alle, die hierher kommen. Wie sehr wird der Horror hier erst das Land verändern. Wird das je vergessen werden?"

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