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Umkehrschub

Von Thomas Seifert

Politik

Globalisierung? Derzeit heißt es: Volle Kraft zurück, sagt John Casti.


"Wiener Zeitung": Wir kennen uns nun schon eine Weile, und Sie haben mich immer mit Ihrem fast schon wienerischen Pessimismus Marke "Die Welt steht nimma lang" überrascht.

John Casti: Dabei bin ich doch eigentlich Amerikaner, die sind doch bekannt für ihren Optimismus.

Unerfreulicherweise sind die meisten Ihrer pessimistischen Prognosen aus den Jahren 2009 und 2010 eingetroffen: eine Rückabwicklung der Globalisierung, die Fragmentierung Europas, der Aufstieg der Rechtspopulisten. Der Zerfall des Euro - von Ihnen ebenfalls vorausgesagt - ist aber nicht eingetreten.

Abwarten.

Aha. Es sind jedenfalls gute Zeiten für Pessimisten.

Das kann man so sagen. Es herrscht eine negative Stimmung vor. Die Menschen blicken mit Angst und Sorge in die Zukunft. Die Gründe dafür sind ganz offensichtlich: Die Mittelschicht ist in den vergangenen Jahrzehnten ausgehöhlt worden. Die Realeinkommen sind gesunken, das Vertrauen in die Regierenden ebenso. Die Unzufriedenheit hat sich als Katalysator für Politiker wie Donald Trump erwiesen, der den Leuten sagt: "Ich werde Amerika wieder großartig machen", und der seinen Wählern weismachen will, dass er sie stark macht. Wladimir Putin macht es in Russland genauso: Die russische Wirtschaft läuft zwar überhaupt nicht gut, aber er verspricht den Russen, dass er das Land wieder stark machen wird, dass er dafür sorgt, dass Russland seinen Platz am Tisch der Mächtigen behält und sich Respekt in der Welt verschafft. Das scheint breiten Schichten gut zu gefallen.

Auf welche Signale sollte man achten? Welche Signale sollten wir beobachten?

Bisher galt immer die Regel: Ein Blick auf die Börsenkurse gibt uns Auskunft über die kollektive Stimmung und über die Einschätzung der Marktteilnehmer, was die Zukunft bringt. Schließlich werden auf den Märkten Wetten auf die Zukunft abgeschlossen. Im Moment ist auf den Finanzmärkten Party-Time, gleichzeitig ist die Stimmung in der Bevölkerung am Boden. Die Börse hat als Stimmungsbarometer jedenfalls fürs Erste ausgedient.

Lassen die sozialen Medien auch Rückschlüsse auf die kollektive Stimmung zu?

Natürlich. Allerdings darf man nicht vergessen, dass gewisse Gruppen - Ältere oder Angehörige bildungsferner Schichten - in den sozialen Medien unterrepräsentiert sind. Zuletzt gab es immer wieder Diskussionen darüber, ob es so etwas wie die "stille Mehrheit" gibt. Donald Trump behauptete das wiederholt. Meine Schlussfolgerung ist eine andere: Weder sind die Leute, die er meint, still, noch sind sie in der Mehrheit. Was sehr wohl der Fall ist: Ein wesentlicher Teil der Gesellschaft fühlt sich von den sogenannten Eliten ignoriert. Diese Ignoranz und Geringschätzung - selbst wenn sie zum Teil nur empfunden ist - führt zu Frustration und Wut.

Eine weitere Lehre des Jahres 2016: Eine gut erzählte Lüge zählt mehr als überprüfbare Fakten.

Die Handlungen vieler Menschen sind weniger von den tatsächlichen Fakten, sondern mehr von einem Gefühl beeinflusst. Was Menschen antreibt, sind nicht Fakten und nicht die Realität, sondern es ist Perzeption.

Warum sind die nostalgischen Nationalisten, Rechts-Populisten und -Demagogen auf breiter Front auf dem Vormarsch?

Wir befinden uns in einer Übergangsphase des Weltsystems. Die Leitidee der letzten 25 oder 30 Jahre war die Idee der Globalisierung. Die Regeln für dieses System wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt. Seither ist eine tsunamiartige Welle der Integration über den Erdball geschwappt. Was wir derzeit erleben, ist der Übergang der Ära der Globalisierung zu einer Ära der Lokalisierung. Das Kommando lautet offenbar: Umkehrschub. Das äußert sich in einem Wunsch nach Handelsschranken und einer Ablehnung der Migration bei breiten Schichten der Bevölkerung. Als ich vor einigen Jahren vom Ende der Globalisierung sprach, habe ich eher an die ökonomische Ebene gedacht. Aber die Politik folgt stets dem Geld. Wenn das ökonomische Klima sich wandelt, dann dauert es nicht lange, bis sich auch das politische Klima verändert. Und mit dem politischen Klima verändert sich das soziale Klima.

Der Kapitalismus ist in einer schweren Krise, die liberale Demokratie ebenso. Warum eigentlich?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Dass aber die gestiegene soziale Ungleichheit ein wichtiger Faktor ist, davon kann man getrost ausgehen. Kapitalismus und Globalisierung haben einen bedeutenden Wohlstandsgewinn gebracht. Die Früchte dieses Wohlstandsgewinns wurden nicht fair verteilt. Die unteren sozialen Schichten bekamen die negativen Aspekte besonders deutlich zu spüren. Dass die reichsten 20 Menschen der Welt heute ganz New York City kaufen könnten, ist schon ein starkes Stück. Die weniger Wohlhabenden können sich in den Städten keine Wohnung mehr leisten, und sie haben in vielen Ländern Probleme, sich Zugang zu halbwegs vernünftiger Gesundheitsversorgung zu leisten. Alles, was es in so einer Situation braucht, ist einer wie Donald Trump, der verspricht, dass alles wieder so wird, wie es vor ein paar Jahrzehnten war. Oder vielleicht besser: Dass es so wird, wie die Leute heute glauben, dass es vor ein paar Jahrzehnten war. Die Erinnerung kann ja oft trügerisch sein.

Wie sieht ihr Worst-Case-Szenario aus?

Das Worst-Case-Szenario ist der Weltuntergang. Aber so schlimm wird es nicht werden (lacht). Aber: Die Menschen haben die Machtstrukturen satt, die Banker, das Finanzsystem, die Eliten. Einfach so ziemlich alles. Die Wahl von Donald Trump war wohl für viele so etwas wie ein politischer Notwehrakt.

Vielleicht stecken wir in einer Art Revolution in Zeitlupe?

Eine Art unblutige Revolte? Das könnte schon sein. Dass die derzeitigen Strukturen nicht mehr funktionieren, das ist evident. Wenn diese Strukturen aber ins Wanken gebracht werden und kollabieren, dann kann das durchaus katastrophale Folgen haben.

Andererseits: Wenn wir neue Strukturen schaffen, dann sind diese besser an die Erfordernisse der Gegenwart angepasst. Für jene, die von den derzeitigen Entwicklungen hinweggefegt werden, zum Beispiel für jene, deren Jobs verschwinden, ist das alles sehr schmerzlich. Die derzeitigen Säulen unserer Machtstrukturen sind Politik und Geld. Politiker und Superreiche sind mit dem System recht zufrieden, denn sie sind ja schließlich die Profiteure dieses Systems. Daher wollen sie nicht viel mehr als ein paar kosmetische Veränderungen. Donald Trump verspricht einen Bruch mit dem herrschenden System. Ob man ihm das glauben soll, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Was bedeutet all das für den Einzelnen?

Dass man dafür sorgen muss, nicht Opfer der Entwicklung zu werden und mögliche Nachteile möglichst zu minimieren. Man sollte sich also die Frage stellen: Wie kann man von einem Lokalisierungstrend profitieren?

Gibt es auch ein Positiv-Szenario?

Die Regierungen müssen konsequent die Renaissance der Mittelschicht betreiben. Wenn es sein muss, auch um den Preis höherer Defizite. Unser System basiert auf einer starken und kräftigen Mittelschicht. Vielleicht ist der Preis dafür auch, dass man weniger Innovations- und Unternehmergeist hat. Ich bin aber davon überzeugt, dass Technologien wie ein neues, selbstfahrendes Auto oder weitere Automation mittelfristig weniger wichtig sind als es eine kräftige Mittelschicht ist.

Wie groß ist die Gefahr von wachsendem Autoritarismus?

Autoritäre Regimes müssen die Schrauben immer weiter anziehen. In China sieht man derzeit, wie das Regime von Xi Jinping die Fortschritte der vergangenen zehn, 15 Jahre Schritt für Schritt zurücknimmt.

Vielleicht setzt ja auch Donald Trump künftig auf autoritäre Strukturen?

Das ist durchaus vorstellbar. Ich fürchte auch, dass der Kongress oder das Oberste Gericht nicht allzu viel Widerstand gegen ihn leisten wird.

Lernt die Menschheit zu wenig aus der Geschichte?

Davon bin ich überzeugt. Aber es kommt noch etwas dazu: Wir haben zwar in den vergangenen Jahrzehnten unglaubliche technologische Fortschritte erzielt, aber wenn man unsere emotionale Entwicklung betrachtet, dann sind wir dieselben Homo sapiens wie vor tausend oder zweitausend Jahren. Für mich persönlich bedeutet diese fehlende Reife des Menschen, dass man einen Plan B braucht.

Wie sieht der bei Ihnen aus?

Ich habe mir vor ein paar Jahren ein kleines Haus in Santa Fe gekauft - nur für den Fall, dass ich eines Tages lieber wieder in den USA lebe anstatt im Herzen Europas. Die Ironie ist jetzt die, dass mir angesichts der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA meine Wohnung in Wien als viel besserer Flucht- und Ruhepunkt erscheint, als mein Häuschen im US-Bundesstaat New Mexiko.

John Casti studierte Mathematik an der University of Southern California. Er arbeitete für die Rand Corporation, an der University of Arizona und trat 1974 dem Forschungsstab des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei. Seit 1986 ist Casti Professor für Operations Research und Systemtheorie am Institut für Ökonometrie, Operations Research und Systemtheorie an der Technischen Universität Wien. Er lebt und arbeitet in Wien.