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Albtraum am Nil

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Die Revolution ist abgeschafft und Ägypten versinkt im wirtschaftlichen Chaos.


Kairo. Mitten auf dem Tahrir-Platz, im Herzen der ägyptischen Hauptstadt Kairo, steht ein Mann in Lederjacke und brüllt zu den wenigen auf dem Gehsteig versammelten Leuten hinüber. In Windeseile löst sich das Grüppchen auf. Zurück bleiben Polizisten, Mitglieder von Spezialeinheiten und vor allem Geheimdienstler. Sie haben die ehemalige Ikone der Revolution am Nil voll in Beschlag genommen. Nur, wer patriotische ägyptische Flaggen verteilt, darf bleiben.

Zwei Männer kommen mit Plakaten, auf denen die "Gefallenen der Revolution" abgebildet sind. Es sind Armeeangehörige oder Polizisten. Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi hatte sie am Tag zuvor in einer Rede gewürdigt. Von toten Demonstranten sprach er nicht. Die Revolution habe ihre Ziele aus den Augen verloren, als sie von speziellen Interessen geleitet wurde, sagte er. Besser kann man die Haltung der Machthaber nicht ausdrücken.

Tahrir-Platz plattgemacht

Es ist "Revolutionstag" in Ägypten. Am 25. Januar vor sechs Jahren gingen erstmals Hunderttausende gegen das verhasste Regime auf die Straße. Eine Welle der Rebellion erfasste das Land, bis der fast 30 Jahre herrschende Husni Mubarak am 11. Februar abdanken musste. Der heutige Tag markiert den Beginn des Aufstandes, es ist ein nationaler Feiertag, doch die Revolution ist abgeschafft. Nichts erinnert mehr daran. Der Tahrir-Platz, wo alles begann, ist plattgemacht und in den Untergrund verlegt. Das gesamte Terrain wurde zur Tiefgarage umfunktioniert. Oben liegen Betonplatten, die mit Sandwegen eingefasst sind. Ein paar Treppen führen nach unten, eine Zahlstation und Luftschächte. In der Mitte weht eine riesige ägyptische Fahne. Der Platz ist blitzsauber, wirkt steril. Zwei Handwerker pinseln noch schnell silberne Farbe an die Laternenmasten, damit kein schlechter Eindruck entsteht, wenn offizielle Gäste zur Gedenkfeier kommen. Sie sind ausgesucht und unterscheiden sich kaum von jenen des alten Regimes. Die jungen Revolutionäre von damals sitzen entweder im Gefängnis oder sind aufs Land gefahren, wie es in Ägypten heißt, wenn man in die Wüste will.

"Wir hatten damals nur die Wahl zwischen einer Militärdiktatur oder einer Religionsdiktatur", sagt Abdal Galil al-Sharnoby. Der 42-Jährige ist Journalist und Mitarbeiter am Ägyptischen Zentrum für Recherche und Studien über religiöse Organisationen und Bewegungen. Das Zentrum ist ein regierungsnaher Thinktank, der mit Mitteln aus den Vereinigten Emiraten ausgestattet wird, die von Anfang an kritisch gegenüber der ägyptischen Revolution und dem Aufstieg der Muslimbruderschaft waren.

Al-Sharnoby ist für sie ein geschätzter Insider und hat eine Wende in seinem Leben vollzogen, die in Ägypten nicht unüblich ist. Euphorie und Jubel für den jeweiligen Machthaber hat Tradition. Der Mann mit den gewellten schwarzen Haaren war 23 Jahre lang Muslimbruder und ist im Verlauf der Revolution "konvertiert", wie er sagt. Noch bevor Mohammed Mursi zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er den Bruch vollzogen. "Ihre Ideen waren mir zu radikal, sie wollten nicht nur Ägypten mit ihrem Islamismus bekehren, sondern die ganze Welt."

Wut auf al-Baradei

Trotzdem, meint al-Sharnoby, hätte die Revolutionsbewegung eine Chance gehabt, wenn sie nicht so zerstritten gewesen wäre und sich auf einen Anführer hätte einigen können. Stattdessen hätten sie das Feld komplett den Muslimbrüdern überlassen, die es schamlos für ihre Zwecke ausnutzten. Doch Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei, der sich als Führungsfigur anbot, eine Partei gründete und viel Zuspruch von jungen Demonstranten bekam, wurde mit einer Schmutzkampagne überzogen, die bis heute anhält. Seinen Rücktritt als Vize-Präsident, mit dem er das Blutbad der Armee unter Anhängern des vom Militär gestürzten Mohammed Mursi kritisierte, wird ihm bis heute verübelt.

Nach einem kürzlich erschienen Fernsehinterview, in dem er die Missstände in Ägypten anprangerte, werden nun Stimmen laut, die ihm die ägyptische Staatsbürgerschaft aberkennen wollen. Parlamentarier haben bereits ein Gesuch an den Staatspräsidenten geschickt. Baradei hat vor drei Jahren Ägypten verlassen und lebt seitdem in Wien.

Die Revolution als Albtraum

Doch die Missstände, die Baradei anspricht, sind gravierend. Seit November ist die ägyptische Währung im freien Fall. Das Pfund hat seitdem 100 Prozent an Wert verloren. Die Inflation ist so hoch wie nie und die Arbeitslosigkeit steigt von Monat zu Monat. Importwaren sind durch den hohen Dollarkurs kaum noch zu bezahlen. Die Regale in den Supermärkten werden leerer. Ägypten ist schon lange nicht mehr in der Lage, seine explodierende Bevölkerung zu ernähren und deshalb auf Importe angewiesen. Es gibt kaum noch weißen Zucker, Babynahrung wird rar, Medikamente sind unerschwinglich geworden. Man tauscht sich aus, wo noch etwas zu kaufen ist, und fährt oft kilometerweit für bestimmte Produkte.

Vor allem die Mittelschicht leide unter der Situation, sagt ein Ex-Mitglied der Baradei-Partei, die sich inzwischen aufgelöst hat - nicht nur ihr Gründer, auch Mitglieder wurden bedroht. Der Druck sei enorm, seit die Subventionen für Strom, Wasser und Benzin gefallen sind. "Die Revolution ist uns zum Albtraum geworden."