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Der Horror von Mossul

Von Petra Ramsauer aus Mossul

Politik

Rasant steigende Opferzahlen, beginnender Massen-Exodus und exzessiver Terror der IS-Terroristen.


Mossul. Der Krankenpfleger Hussam Ayad bekommt dutzende Male täglich jenen Teil der Offensive aus Mossul zu sehen, die im Irak niemand sehen will: die Opfer einer immer brutaleren Schlacht um die Stadt. "Es gibt laufend Selbstmordangriffe gegen die voranrückenden irakischen Einheiten", berichtet er. "Die Verletzungen sind mitunter grauenvoll. Bis zu fünfzig, sechzig schwer Verwundete werden pro Tag gebracht. Aber wir sind nur ein Stützpunkt von vielen."

15 Kilometer von der Front entfernt, nahe dem ehemaligen Flughafen Mossuls, arbeitet er in einer winzigen Klinik. Gerade behandelt er einen Offizier der paramilitärischen Polizei-Truppen: Tarek, ein 50-jähriger Offizier, der von einem Schrapnell schwer am Rücken verletzt wurde. "Es ist nichts. Einer von meiner Truppe starb", sagt er knapp unter qualvollen Schmerzen.

Verschiedene Teile der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen kooperieren in dieser Offensive. Insgesamt sollen bis zu 100.000 Mann im Einsatz sein. Nach dem Debakel im Frühling 2014, als es den zehntausenden Kämpfern der Terrormiliz "Islamischer Staat" binnen weniger Wochen gelang, Mossul, Iraks zweitgrößte Stadt, samt einem Drittel des Iraks einzunehmen, geht es nun darum zu zeigen, dass die Sicherheitskräfte auch tatsächlich in der Lage sind, sich im eigenen Land zu behaupten. Es ist ein Sieg, der um jeden Preis errungen werden muss.

Ein Pflichtsieg

"Die Niederlage der Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ ist unausweichlich", betonte Premierminister Haidar al-Abadi bei einem Truppenbesuch in Mossul und lobte die Schlagkraft seine Truppen. Überraschend schnell, überraschend erfolgreich würde die am 19. Februar gestartete Offensive auf den Westen der Stadt vorangehen. Die schwierigste Etappe, die Eroberung der Altstadt, stehe zwar noch bevor. Doch in einem Monat sei die Stadt "befreit", heißt von Spitzenfunktionären der irakischen Armee.

Bereits im Jänner wurden nach mehreren Monaten die Viertel Mossuls erobert, die östlich des Tigris liegen. Der Kampf im dicht besiedelten Westen ist jedoch deutlich schwieriger. Bassam, der einen Stützpunkt der paramilitärischen Polizeikräfte bewacht, will nicht mehr als seinen Vornamen nennen, wenn er über die sehr verlustreiche Schlacht spricht. "Es ist kein guter Morgen heute", begrüßt er die Reporter. "Wir haben gestern so viele von uns verloren. Mehr als hundert, alleine hier an diesem Frontabschnitt", berichtet er. "Ein Mann von denen ist so gefährlich wie hundert von uns", gibt Bassam zu. "Sie sind hier, um zu sterben. Und wir würden gerne leben."

Zivilisten unter Feuer

Etwas anders hört sich die Darstellung von Offizier Zaid Zatari an, der in einem Zelt die schwere Artillerie direkt an der Front koordiniert: "Das ist ein Krieg. Natürlich gibt es Tote. Aber wir sind extrem gut aufgestellt. Das Problem ist nur, dass die Kämpfer des IS längst eingeschlossen sind, nichts zu verlieren haben. Sie feuern wahllos in unsere Reihen."

Autobomben, Minen, große Sprengsätze an allen Routen und Selbstmordattentäter, die zum Teil noch im Teenageralter sind - so führt die Terrormiliz IS ihren desperaten Abwehrkampf. Höchstens 7000 IS-Kämpfer sollen noch aktiv sein, selbst der Führer Abu Bakr al-Baghdadi ist geflohen. - "Gewonnen ist der Krieg noch nicht. Sie werden nicht aufgeben, kämpfen bis zum Umfallen. Aber wir werden die Menschen von Mossul vor diesen Terroristen retten. Und das wird klappen", so Zatari.

Exakt dieses Ziel, Menschen zu retten, wird aber derzeit verfehlt. Nicht nur das immer brutalere Vorgehen der Terroristen gegen die verbliebenen 700.000 Einwohner, sondern auch der Krieg selbst fordert einen hohen Blutzoll.

Massive Luftangriffe auf Stellungen der Terrormiliz, in erster Linie unternommen von den USA und ihren weltweiten Verbündeten, fordern immer mehr Tote unter der Bevölkerung. Laut der Beobachtungsstelle "airwars" dürften allein in den ersten Märztagen bis zu 300 Menschen umgekommen sein: ein dramatischer Anstieg seit Beginn der Offensive.

Gespräche mit Flüchtenden aus der Stadt, die geradezu um ihr Leben laufen, bekräftigen die Dramatik der Lage. "Diese grauenhaften IS-Terroristen zielen förmlich auf uns, wenn wir versuchen zu fliehen. Wir sind ihre Geiseln", berichtet ein 53-jähriger Mann, der nur als "Omar" bezeichnet werden will: "Die Scharfschützen beziehen Position auf den Häuserdächern, und dann werden wir von der irakischen und der US-Luftwaffe bombardiert."

Mit seinen zwölf Kindern floh er, berichtet "Omar", in letzter Minute vor einem Angriff auf sein Haus. "Sie standen im obersten Stock unseres Hauses und zielten unaufhörlich auf die nachrückenden irakischen Truppen. Dabei sprachen sie Russisch."

Seine Beobachtungen bestätigen, dass nun kampferprobte ausländische IS-Kämpfer die Schlacht bestimmen. Besonders brutal würden sich, so Omar, derzeit die einheimischen Mitstreiter der Terrormiliz benehmen. "Es waren die schlecht ausgebildeten Underdogs in unserer Stadt, die ein regelrechtes Schreckensregime errichtet hatten. Es waren Sadisten, die uns in ihrer Macht hatten", sagt er und berichtet von fürchterlichen Ritualen, von Körperstrafen wie dem Abhacken von Händen. "Doch jetzt haben sie jede Hemmung verloren. Und gehen wie wilde Tiere auf uns los."

Seine Flucht war, sagt er, alternativlos. "Wir haben um Mitternacht die Kinder genommen und sind einfach gelaufen - quer durch die Gefechtslinien. Wir wussten, wir sterben so oder so zu Hause."

Apokalyptische Szenen

Über Mossul liegt eine blaugraue Nebelglocke und unaufhörlicher Gefechtslärm. Direkt an der Front strömt jede Stunde eine neue Gruppe von Menschen über die Todeslinie. Mitgenommen wird, was nur irgendwie geht. Hühner, Enten, Lämmer, Kanarienvögel. Lkw und Busse der irakischen Polizeieinheiten holen die völlig entkräfteten Menschen bei den Gefechtslinien ab. Mittlerweile ist die Zahl der Vertriebenen so hoch, dass aus dem gesamten Land Lkw und Linienbusse zusammen gezogen werden.

Seit Beginn der Offensive auf Mossul sind 250.000 Menschen aus der Stadt geflohen. Zuletzt stieg ihre Zahl auf bis zu 30.000 pro Tag, die dazukommen. Bis zu 400.000 könnten in den nächsten Wochen fliehen, befürchten die Vereinten Nationen. Das erste Auffanglager, Hammam al-Alil, 25 Kilometer südlich der Stadt, ist überfüllt von Neuankömmlingen. Sie warten hier bei den steigenden Temperaturen in langen Schlangen Stunden auf die erste Mahlzeit seit Wochen.

Unter ihnen ist Mariam Awad, eine Krankenschwester: "Es ist fürchterlich hier. Aber ich lebe. Meine größte Angst in der Stadt war, verwundet zu werden. Alle Kliniken sind geschlossen. Dabei werden so viele Menschen verletzt. Es gibt keine Ärzte mehr. Wer krank wird oder Hilfe braucht, stirbt. Unter den Trümmern hört man ständig Rufe von Verschütteten. Niemand ist da, um sie zu bergen." Zudem sei die Strom- und Wasserversorgung zusammengebrochen. Und die Märkte seien geschlossen.

Seit November habe sie von ein wenig Mehl und Tomatenkonserven gelebt. Doch schon die Zeit zuvor sei ein einziger Albtraum gewesen. In ihren Armen trägt sie ihr jüngstes Kind, Rama, ein Mädchen, nur wenige Wochen alt. "Ich war mit Zwillingen schwanger, aber der Bub ist gleich gestorben. Ein Kaiserschnitt war nötig. Doch es gab keine Ärztin, nur Ärzte. Und die IS-Terroristen haben ihnen verboten, mich zu operieren." Eine Kollegin, eine Pflegerin, übernahm die Notoperation. "Unser Leben in dem Terrorstaat war die blanke Hölle. Wir bezahlen den Preis dafür, dass die Politiker des Iraks versagt haben."

ZuR Autorin

Petra

Ramsauer

ist Journalistin und Autorin. Sie berichtet immer wieder aus den Krisenregionen des Nahen Ostens, die sie regelmäßig bereist. Zuletzt veröffentlichte die Trägerin des Concordia-Preises das Buch "Siegen heißt, den Tag überleben: Nahaufnahmen aus Syrien" (Verlag Kremayr & Scheriau).