Zum Hauptinhalt springen

"Das Trauma von 2015 nicht wiederholen"

Von Siobhán Geets

Politik

Der Libanon-Chef des UN-Ernährungsprogramms, Dominik Heinrich, über die Lage sechs Jahre nach Beginn des Syrienkriegs.


"Wiener Zeitung": Heute jährt sich der Beginn des bewaffneten Konflikts in Syrien zum sechsten Mal. Im Libanon ist mittlerweile jeder dritte Einwohner Flüchtling. Rund 1,5 Millionen Syrer hat der Zedernstaat aufgenommen - gemessen an der Bevölkerung mehr als jedes andere Land. Wie sieht die Versorgungslage des World Food Programme (WFP) im Libanon derzeit aus?

Dominik Heinrich: Nach der London-Konferenz im Februar 2016 und dadurch, dass Deutschland so prominent mit Hilfsgeldern für die Flüchtlinge eingesprungen ist, haben wir es voriges Jahr geschafft, den Menschen Hoffnung zu geben. Wir konnten die Ernährungshilfe über elektronische Geldkarten von 27 Dollar pro Person und Monat wiederherstellen. Im Jahr davor hatten wir die Hilfe auf 13,5 Dollar kürzen müssen. Heuer war hingegen stabil. Natürlich muss man das auch aus der Sicht des Libanon und der dortigen Politiker sehen: Für sie war es ein Jahr voller Herausforderungen. Das Land macht ein Achtel der Fläche Österreichs aus, hat rund 4,5 Millionen Einwohner und hat eine Million Flüchtlinge aufgenommen (inoffizielle Zahl: 1,5 Millionen, Anm.).

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz wirbt für mehr Unterstützung in den Aufnahme- und Herkunftsländern des Nahen Ostens. Österreich lag jedoch mit den Zahlungen an die UNO in den vergangenen Jahren weit hinten. Hat sich das gebessert?

Österreich hat heuer für das WFP in Syrien fünf Millionen Dollar beigetragen. Als die Migrationskrise 2015 ausgebrochen ist, hat Österreich für den Libanon drei Millionen gespendet. Wenn Österreich auch heuer etwas für den Libanon tun könnte, wäre das sehr willkommen. Jeder Groschen zählt. Es ist die richtige Strategie, den Menschen dort Hoffnung zu geben, wo sie sind. Die Länder, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben, müssen aber auch unterstützt werden. Der Libanon ist auf der globalen Korruptionsliste auf Platz 134. Man muss sehr vorsichtig sein. Die internationalen Organisationen sind deshalb eine gute Garantie dafür, dass die Gelder zielsicher eingesetzt werden.

Im Vergleich zu Deutschland zahlt Österreich sehr wenig. Führt die UN direkte Gespräche mit dem österreichischen Außenministerium?

Das WFP hat zwei Programme, um der Krise im Mittleren Osten zu begegnen: In Syrien und in den fünf umliegenden Ländern, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Es waren österreichische Politiker und Funktionäre des Außenministeriums hier, um sich die Lage anzusehen. Zugleich ist aber das Lebensministerium zuständig für das WFP. Wie das in den Entscheidungsprozessen zwischen den Ministerien umgesetzt wird, kann ich aber nicht nachvollziehen.

Die Situation syrischer Flüchtlinge im Libanon war noch vor einem Jahr katastrophal. Feste Camps gibt es nicht, weil der Libanon fürchtet, dass die Menschen dann bleiben - wie die palästinensischen Flüchtlinge. Fast 250.000 bei der UN registrierte syrische Kinder gehen nicht in die Schule.

Das ist eine Tatsache. Die Situation hat sich 2016 allerdings wesentlich verbessert. Am Anfang hofften viele, dass die Syrienkrise nicht lange dauern würde. 2016 trat eine gewisse Ernüchterung ein. Wir haben ein Pilotprojekt gestartet und an 10.000 Kinder - je 5000 syrische und 5000 libanesische - in 20 Schulen Snacks verteilt. Das ist für die Eltern ein Ansporn, sie in der Schule zu lassen. Aus Geldmangel müssen viele ihre Kinder sonst arbeiten schicken. Nun bleiben 96 Prozent der Kinder in der Schule - ein gutes Ergebnis. Zudem ist dem Bildungsministerium bewusst geworden, dass auch am Bildungssektor fair vorgegangen wird. Später konnten wir das Projekt auf 17.000 Kinder ausdehnen. Und das "Cash for education"-Programm, bei dem Eltern finanzielle Unterstützung bekommen, nutzt 15.000 Flüchtlingen: Die Familien lassen die Kinder in den Schulen, anstatt sie zur Arbeit zu schicken.

Die jährliche Meldegebühr von 200 Dollar für Syrer im Libanon wurde kürzlich abgeschafft. Nun ist es leichter für sie, legalen Status zu erhalten. Was ändert das in der Lebensrealität der Menschen?

Das wird sich erst herausstellen, die Umsetzung ist noch nicht weit fortgeschritten. Momentan haben die Flüchtlinge Angst, sich frei zu bewegen. Für den Libanon sind sie eine enorme Herausforderung. Deshalb ist die Regierung vorsichtig in der Handhabung dieser Krise. Das politische System ist auf die Machtteilung der Konfessionen ausgerichtet, da kann man keine radikalen Veränderungen einleiten, die das Land destabilisieren könnten. Hinzu kommen die Erfahrungen, die der Libanon mit den Palästinensern gemacht hat. Die internationale Hilfe ist für dieses Land wichtig und sinnvoll. Die Familien hier wollen nicht alle nach Deutschland oder Österreich. Die Heimat ist 30 oder 40 Kilometer weit entfernt, es herrscht das selbe Klima, die gleiche Esskultur. Die Menschen wollen zurück nach Hause, aber wir müssen ihnen, bis sie das können, eine Chance geben, in der Region bleiben und überleben zu können.

Die Meldegebühr hat es Erwachsenen de facto unmöglich gemacht, zu arbeiten, und Kinderarbeit und Kinderehen angetrieben. Wird das nun besser werden?

Die Konsequenzen dieser Entscheidung gehen in diese Richtung. Aber die Umsetzung und der Zeitraum sind ausschlaggebend.

2016 hat das WFP seine Hilfe auch auf Libanesen ausgedehnt...

Abgesehen von der Unterstützung für 700.000 Flüchtlinge haben wir 50.000 Libanesen, die unter der Armutsgrenze leben, geholfen - mit demselben Schema wie für die Flüchtlinge. Sie bekommen eine Bankomatkarte, mit denen sie in 500 Geschäften für den monatlichen Betrag einkaufen können. Das nutzt auch dem Libanon: Ein Drittel der Güter wird hier produziert, ein weiteres Drittel wird hier verarbeitet.

Die Hilfe für Libanesen ist wichtig, um Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu vermeiden. Sehen Sie bereits Verbesserungen im Verteilungskampf?

Absolut. Sonst würden sich Libanesen, die unter der Armutsgrenze leben, benachteiligt gegenüber den Flüchtlingen fühlen. Den Syrern geht es wirklich miserabel, vor allem im Winter. Die Menschen haben ihr Erspartes und Geborgtes ausgegeben, Geld und Sachgüter sind weg. Die Lage verschärfte sich ständig. 2016 war relativ stabil, die Ernährungssicherheit war besser als 2015. Die anderen Parameter haben sich zumindest nicht verschlechtert. Wollen wir jetzt ein Signal setzen, müssen wir aufrechterhalten, was wir bisher geschafft haben, und dürfen nicht wieder in einen Strudel der Ungewissheit kommen wie 2015. Die Flüchtlingskrise ist zwar keine Hungerkrise wie im Jemen oder im Südsudan, aber sie ist doch ein Stabilitätsrisiko.

Ist die Versorgung des WFP für den Libanon heuer gesichert?

Nur bis Juni. Die großzügige Unterstützung durch Deutschland im vergangenen Jahr war sehr wichtig. Wenn wir jedes Jahr wieder von Neuem diskutieren müssen, riskiert man, dass wir nicht eines auf dem anderen aufbauen können. Die Erfahrungen von 2015 waren so traumatisch, das wollen wir nicht wiederholen.

Dominik Heinrich ist seit 2016 Direktor des UN-Welternährungsprogramms (World Food Programme) im Libanon. Bevor der Jurist 2001 zur UN stieß, war er Anwalt in Rom. Für das WFP war der Österreicher unter anderem in Honduras und im Kosovo tätig.