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"Heute ist der erste Tag der Revolution"

Von WZ-Korrespondentin Barbara Essig

Politik

Eine geplante Steuererhöhung trieb am Wochenende tausende Libanesen auf die Straße. Die Unzufriedenheit wächst.


Beirut. Zeyna wirkt etwas verloren im Menschen- und Fahnenmehr um sie herum. Es ist die erste Demonstration der 30-Jährigen. Als die Libanesen 2005 die syrischen Besatzer aus dem Land vertrieben, blieb sie ebenso zuhause wie zum Höhepunkt der Müllkrise 2015, als die libanesische Hauptstadt in Gestank und Chaos zu versinken drohte.

Aber heute ist Zayna mit Tausenden anderen hier, auf dem Platz zwischen Parlament und Regierungssitz, umringt von unzähligen Polizisten und Soldaten, die das ohnehin stets gut bewachte Innenstadtviertel noch stärker abriegeln als sonst. "Ich habe Angst vor dem, was morgen kommt. Ich weiß nicht, wie lange ich die Schulgebühren für meine Kinder noch bezahlen kann", sagt sie. "Wenn ich heute nicht auf die Straße gehe, wird mein Sohn morgen das Land verlassen müssen."

Verzeichnete die libanesische Wirtschaft vor Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs noch Wachstumsraten von acht Prozent, geht der IWF für 2016 von lediglich einem Prozent aus. Bereits vor Beginn des Konflikts im Nachbarland mussten rund 28 Prozent der Bevölkerung mit weniger als vier Dollar am Tag auskommen und galten laut UN-Definition als "arm", aktuellere Zahlen fehlen bislang.

Trotz der düsteren Wirtschaftslage hat die libanesische Regierung am Donnerstag den ersten Teil eines Paketes an Steuererhöhungen beschlossen, um Lohnerhöhungen von insgesamt 800 Millionen Dollar im öffentlichen Dienst zu finanzieren. Besonders umstritten: Die Anhebung der Mehrwertsteuer von aktuell zehn auf elf Prozent, die auch die Ärmsten treffen würde.

Korrupte politische Klasse

Die Kritik an der Steuererhöhung ist aber auch deshalb so laut, weil ein Großteil der Libanesen der Meinung ist, von einer durch und durch korrupten politischen Klasse regiert zu werden. Seit Jahrzehnten beherrschen die immergleichen Familienclans das politische Geschehen. Premier Saad Hariri ist laut Forbes aktuell mit 1,4 Milliarden Dollar der fünftreichste Libanese. Sein Immobilienimperium erbte er von seinem Vater, Ex-Premier Rafiq Hariri. Transparency International reiht das Land auf seiner Liste der korruptesten Staaten auf Platz 37.

"Wir sind hier, um gegen die neuen Steuern zu demonstrieren, aber auch gegen die korrupte Regierung und Parteien", sagt die 22-jährige Saher. Gemeinsam mit ihrem Mann ist sie deshalb in den Morgenstunden aus dem Süden des Landes angereist, vier Stunden und drei verschiedene Kleinbusse entfernt. "Wir arbeiten beide, aber dennoch reicht es nicht zum Leben."

Den letzten Satz muss Saher schreien, um noch verstanden zu werden. Gut hundert Meter entfernt ist es einer kleinen Gruppe gelungen, die Absperrung vor dem Regierungssitz zu durchbrechen. Es fliegen Flaschen, Blendgranaten und Böller, schließlich drängt die Polizei die Demonstranten mit Schlagstöcken zurück. "Heute ist der erste Tag, der libanesischen Revolution", ruft ein junger Mann begeistert.

Labiles politisches Gleichgewicht

Kurz zuvor hat sich Premier Saad Hariri an die Protestierenden gewandt. "Die Regierung wird an eurer Seite stehen - wir werden gegen Korruption und Verschwendung ankämpfen. Wir werden den Weg gemeinsam mit euch fortsetzen." Über Twitter wird er danach die Organisatoren des Protestes aufrufen, ein Komitee zu bilden und der Regierung Vorschläge zu unterbreiten. Dass das Dialogangebot des Premiers tatsächlich etwas ändern wird, daran scheint an diesem Sonntagnachmittag in Beirut niemand so recht zu glauben. Aber es zeigt, wie ernst Hariri die Proteste nimmt, die seit Donnerstag täglich an Stärke zugenommen haben. Ursprünglich von der christlich-konservativen Oppositionspartei Kataeb initiiert, ist der Widerstand mittlerweile überkonfessionell und -parteilich.

Das ohnehin labile politische und gesellschaftliche Gleichgewicht zwischen Christen, Sunniten und Schiiten im Land ist seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien noch instabiler geworden. Zu den 1948 ins Land gekommenen 300.000 bis 500.000 palästinensischen Flüchtlingen, die de facto staatenlos in Betonsiedlungen an den Stadträndern leben, kamen geschätzte 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge. Auch die vom Iran unterstütze radikale Schiitenorganisation Hezbollah, die mit zwei Ministern an der Regierung beteiligt ist, gewann durch ihre Beteiligung an den Kampfhandlungen auf Seiten Bashar al-Assads und Russlands an Macht und Einfluss.

Wahlgesetzreform fehlt

Damit nicht genug, könnte dem Land im Sommer eine weitere Phase politischer Instabilität drohen. Die Amtszeit des Parlaments endet Mitte Juni, bisher konnten sich die Parteien allerdings nicht auf ein für Wahlen nötiges neues Gesetz einigen. Die Frist läuft in wenigen Tagen ab. Viele gehen daher bereits von einer Wahlverschiebung bis September aus. Wie der Libanon bis dann regiert würde, ist offen: "Man darf nicht unterschätzen, bis zu welchem Punkt die Voraussetzungen für einen perfekten Sturm ständig präsent sind", heißt es in einem Bericht der britischen Regierung.