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Präsident ist nicht gleich Präsident

Von Ronald Schönhuber

Politik

Die Befürworter der türkischen Verfassungsreform wischen Kritik gern mit dem Verweis auf Frankreich weg, wo es trotz eines starken Präsidialsystems eine lebhafte und unbeirrte Demokratie gibt. Doch der Vergleich hinkt in vielerlei Hinsicht.


Ankara/Wien. Binali Yildirim weiß, wie man aus einer komplexen und nur schwer zu durchschauenden Materie eine einfache Sache macht. Um seine Landsleute von der Notwendigkeit einer Verfassungsreform zu überzeugen, greift der türkische Ministerpräsident etwa gern auf ein Bild aus der Seefahrt zurück. Denn auf einem Schiff dürfe es auch nicht zwei Kapitäne geben, weil zwei Kapitäne das Schiff letztendlich sinken lassen würden.

Yildirims Analogie ist nicht nur leicht verständlich, sondern auch glaubwürdig. Denn als ehemaligem Schiffbauingenieur nimmt man dem 61-Jährigen nur zu gerne ab, dass er sich in der Seefahrt auskennt. Doch wenn die knapp 80 Millionen Türken am kommenden Sonntag über die Einführung eines Präsidialsystems abstimmen, geht es um weit mehr als die Frage, ob es künftig neben dem Präsidenten auch weiterhin einen Premierminister geben soll oder eben nicht.

Der vor allem von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Umbau der Türkei würde dem Staatsoberhaupt auch eine bisher ungekannte Machtfülle verleihen. Erdogan und seine Amtsnachfolger könnten dann nicht nur die Regierung ernennen und entlassen, sondern auch den Staatshaushalt vorlegen sowie zentrale Posten in Justiz und Verwaltung besetzen. Hinzu kommt, dass der Präsident im Bedarfsfall mittels Dekreten regieren kann, die sich vom Parlament nur sehr schwer wieder kassieren lassen.

Bewegte Zeiten

Dass es einen starken Mann am Steuer braucht, wird von Erdogan und der von ihm gegründeten Regierungspartei AKP vor allem mit den bewegten Zeiten begründet. Nach dem misslungenen Putsch vom 15. Juli, für den die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen verantwortlich gemacht wird, befindet sich die Türkei noch immer in Aufruhr. Dazu kommen der bis nach Istanbul und Ankara getragene Terror des Islamischen Staates und die Lage im Südosten des Landes, die nach der Aufkündigung des Friedensprozesses mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wieder deutlich eskaliert ist.

Dass die angestrebte Machtfülle des Präsidenten letzten Endes den Weg für das bereitet, was Kritiker als "Ein-Mann-Diktatur" beschreiben, wird von Erdogan und hochrangigen AKP-Politikern allerdings bestritten. Sie verweisen in diesem Zusammenhang vor allem auf Frankreich und die USA, wo es trotz eines Präsidialsystems eine lebhafte und unbeirrte Demokratie gibt.

Doch gerade der genaue Vergleich mit Frankreich, dessen politisches Modell unzweifelhaft für die türkische Verfassungsreform Pate gestanden hatte, dürfte mehr Zweifel bestehen lassen als ausräumen. Deutliche Unterschiede gibt es etwa schon in formaler Hinsicht, etwa beim Amt des Premierministers, das es in Frankreich gibt, in der Türkei aber abgeschafft werden soll. Ebenso verlangt die von Charles de Gaulle geprägte Verfassung der fünften Republik, dass ein Präsident die Regierung nur mit Zustimmung des Parlaments entlassen darf. In der Türkei soll das Staatsoberhaupt hingegen vollkommen eigenhändig handeln dürfen. Zudem kann Erdogan nach einem Erfolg beim Referendum beliebig viele nicht vom Volk legitimierte Vizepräsidenten ernennen, die im Falle seines Todes die Amtsgeschäfte übernehmen.

Parteichef und Staatschef

Einen wesentlichen Unterschied wird es auch im Verhältnis zwischen dem Staatschef und seiner Partei geben. Denn ebenso wie in Frankreich wird der Präsident auch in der neuen Türkei wieder einer Partei angehören dürfen, doch dass er auch gleichzeitig noch die Partei führt, so wie das in Ankara künftig möglich sein soll, ist in Frankreich nicht vorstellbar.

Diese Personalunion von Staats- und Parteichef ist nach Ansicht von Politologen und Verfassungsjuristen auch einer der problematischsten Punkte des türkischen Verfassungsentwurfs. Denn bei so gut wie allen Parteien im Land ist die innerparteiliche Demokratie nicht besonders stark ausgeprägt. Die Parteivorsitzenden treffen nahezu alle wichtigeren Personalentscheidungen und prägen die Kandidatenauswahl auf mehr oder weniger allen Ebenen. Entsprechend stellt sich auch die Zusammensetzung des Parlaments dar. "Selbst wenn es an der Parteibasis ein bisschen demokratischer vor sich geht, gibt es keinen Abgeordneten der AKP, der nicht von Erdogan persönlich die Billigung bekommen hat", sagt der Stuttgarter Jurist Christian Rumpf, der sich seit Jahrzehnten als Rechtsanwalt und Hochschullehrer mit der Türkei auseinandersetzt, gegenüber der "Wiener Zeitung". "Ohne den Parteivorsitzenden kommt schlichtweg keiner ins Parlament." In der politischen Praxis dürfte das vor allem bedeuten, dass der Staatspräsident das de jure unabhängige Parlament weitgehend in der Hand hat, zumal durch die künftig zeitgleich abgehaltenen Wahlen die Chancen steigen, dass die Präsidentenpartei auch im Abgeordnetenhaus die Mehrheit erreicht.

Über die Hintertür

Problematisch erscheint aber nicht nur die mögliche Einflussnahme auf Parteien und Parlament. Auch die Justiz, die nach Meinung von Politikwissenschaftlern gerade in Präsidialsystemen besonders stark und unabhängig sein muss, könnte in der Türkei künftig an die deutlich kürzere Leine genommen werden, wenn auch durch die Hintertür. Denn in Artikel 9 der neuen Verfassung will die türkische Regierung festschreiben, dass die Gerichte nicht nur unabhängig, sondern ausdrücklich auch "unparteiisch" sein sollen.

Einen deutlich größeren Spielraum als bisher wird der türkische Präsident aber bei der Besetzung des mächtigen Rats der Richter und Staatsanwälte bekommen, der eine zentrale Rolle spielt, wenn es darum geht, Personalentscheidungen für bedeutende Gerichte zu treffen. So darf Erdogan laut der neuen Verfassung vier der 13 Mitglieder des Gremiums selbst nominieren. Hinzu kommen der Justizminister und der Staatssekretär, die ja ebenfalls vom Präsidenten ernannt werden und die auf Grund ihrer Funktion automatisch Mitglied im Rat sind. Die restlichen sieben Mitglieder werden vom Parlament bestimmt, wobei es freilich aufgrund der dort bestehenden Abhängigkeiten relativ unwahrscheinlich ist, dass sich kritische Kandidaten durchsetzen werden können. "Die Türkei hatte in der Vergangenheit eine perfekte Abgrenzung der Gewalten, weil die Justiz sich mehr oder weniger selbst rekrutiert hat", sagt Rumpf, der in Bamberg Honorarprofessor für Türkisches Recht ist. "Doch im Vergleich zu Frankreich, wo im Lauf der Jahrzehnte die Einflussnahme der Exekutive immer stärker zurückgedrängt wurde, will man nun in der Türkei den genau umgekehrten Weg gehen." Dass das vor allem für den politischen Gegner mehr als unangenehm werden könnte, steht für Rumpf außer Zweifel. "Wir werden eine präsidentenfreundlichere Justiz bekommen", sagt der Jurist. "Und politisch gesehen wird das vor allem in der Strafjustiz wirken, da man auf diesem Weg Regierungskritiker künftig leichter mundtot machen kann."

Eine Frage des Apparats

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Türkei und Frankreich steht aber nicht einmal in den Verfassungstexten. Denn ähnlich wie in anderen westlichen Staaten stützt sich die demokratische Grundordnung in Frankreich stark auf den verbeamteten Verwaltungsapparat, der sich vergleichsweise wenig darum kümmert, ob nun gerade Sozialisten oder Konservative an der Macht sind. Und während in der Türkei es kaum ein Beamter wagen würde, die Meinung seines Ministers in Zweifel zu ziehen, stellen sich die selbstbewussten Pariser Spitzenbeamten mitunter auch gegen "Monsieur le President" auf die Beine. Doch es ist nicht nur der Widerstand der Institutionen, den das französische Staatsoberhaupt fürchten muss. Nicht wenige politische Vorhaben wurden in der Vergangenheit wieder abgeblasen, weil man sich auf einmal mit hundertausenden Demonstranten auf den Straßen konfrontiert sah. Denn im Gegensatz zu Binali Yildirim scheinen die Franzosen, durchaus der Meinung zu sein, dass ein Schiff sich nicht nur mit einem Kapitän sinnvoll steuern lässt, sondern auch mit ganz vielen Kapitänen.