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Protokolle aus einer umkämpften Stadt

Von Mohammad al-Kheder und Bartholomäus von Laffert

Politik

Die irakische Armee versucht seit Monaten den IS aus Mossul zu vertreiben. Vier Menschen berichten.


Mossul. Nur langsam gelingt es den irakischen Regierungstruppen, zusammen mit ihren westlichen Bündnispartnern, Mossul vom IS zu befreien. 2014 hatten die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates die irakischen Streitkräfte in einer Nacht- und Nebel-Aktion aus der Stadt vertrieben - im Oktober 2016 begann die Operation zur Rückeroberung Mossuls. Noch immer sind laut Schätzungen der Vereinten Nationen rund 400.000 Menschen in der Altstadt und den umliegenden Vierteln westlich des Tigris eingeschlossen. Seit Mitte Februar versuchen die irakischen Truppen, zusammen mit der US-geführten Anti-IS-Koalition, die besetzten Stadtteile unter ihre Kontrolle zu bringen. Immer häufiger geraten dabei auch Zivilisten zwischen die Fronten. Mehr als 3000 sollen dabei seit Februar ums Leben gekommen sein.

Mithilfe der Kollegen vom syrisch-irakischen Nachrichtenportal "Sound-and-picture.com" gelang es der "Wiener Zeitung", mit vier Menschen Kontakt aufzunehmen, die noch immer in der Stadt ausharren oder diese erst vor kurzem verlassen haben. Sie berichten von der grausamen Herrschaft der Dschihadisten, von der Angst vor den Kampfflugzeugen der Anti-IS-Koalition, die sich um zivile Opfer nicht scheren, und von der Ungewissheit, was nach dem Sieg über den IS passieren wird.

Ahmad (40), Gynäkologe

"Das Schlimmste ist, dass ich dabei zusehen muss, wie Menschen sterben, obwohl ich eigentlich helfen könnte. Etwa, als mein Viertel von der Anti-IS-Koalition bombardiert wurde und dutzende Menschen tot oder verletzt am Boden lagen. Eigentlich bin ich Gynäkologe, aber der IS hat mir verboten zu arbeiten. Täte ich es doch, würden sich mich ins Gefängnis sperren. Sie hassen Menschen, die einen Universitätsabschluss haben, weil sie denken, dass die sich für etwas Besseres halten und ihre Lügen durchschauen. Deshalb habe ich jeden Tag Angst, dass ich bestraft werde: Es kann sein, dass ihnen mein Bart nicht gefällt, dass ich die falschen Klamotten trage. Selbst, wenn ich gar nichts getan habe, können sie mich als Verräter denunzieren, als Spion der Koalition.

Der einzige Grund, warum ich noch in Mossul bin, ist das Haus, in dem ich lebe. Ich habe so viel Geld dafür bezahlt und wenn ich jetzt gehe, weiß ich, dass der IS es entweder besetzen oder in Schutt und Asche legen wird. Deshalb habe ich Schlepper bezahlt, die meine Familie fortgebracht haben. Ich selbst bin hier geblieben. Jeden Tag bete ich dafür, dass dieser Wahnsinn bald ein Ende hat und ich meine Familie endlich wiedersehen kann. Aber mit jedem Tag sterben mehr Menschen und ich glaube weniger daran.

Seit Beginn der Operation wurden so viele Zivilisten getötet: Vom IS, weil sie angeblich mit dem Feind kooperieren. Von der Koalition, weil sie verdächtigt wurden, Terroristen zu sein, oder aus Versehen Ziel ihrer Bomben wurden. Das hier ist eine irakische Stadt, natürlich will ich, dass die irakische Armee sie zurückerobert - aber nicht, wenn sie dafür erst ihre eigene Bevölkerung töten muss."

Fatima (22), Studentin

"Ich werde die Explosion und den 17. März 2017 nie vergessen: Die US-geführte Koalition hat das Viertel Neu-Mossul aus der Luft angegriffen. Ich wohne nur wenige Straßen weiter und habe die Explosion gespürt. Ganz ehrlich: Unser Leben hier in Mossul ist nichts mehr wert. Nicht für den IS und auch nicht für die Koalition.

Ich fühle mich in meinem Haus wie eine Gefangene, die darauf wartet, dass ihr Todesurteil vollstreckt wird. Ich kann hier nicht weg: Wenn ich rausgehe, muss immer ein Mann aus meiner Familie dabei sein, sonst bestraft mich der IS. Außerdem muss ich diesen langen schwarzen Umhang tragen. Es kann trotzdem sein, dass sie mich beschuldigen, falsch zu gehen, und dafür meine Familie bestrafen. Selbst, wenn mich die IS-Leute in Ruhe lassen, muss ich immer noch die Luftangriffe fürchten. Mit Befreiung hat das hier in Mossul nichts zu tun: Eine radikale Gruppe löst eine andere radikale Gruppe ab.

Wenn ich könnte, würde ich fliehen, aber wir haben kaum das Geld, um uns Lebensmittel zu leisten. Wie sollen wir dann die Leute vom IS bestechen? Ich hoffe so sehr, dass ich eines Tages mein Studium abschließen kann, ich wollte immer Volksschullehrerin werden. Aber ich habe Angst, dass ich es nicht schaffe, so lange zu überleben."

Salim (21), Schüler

"Letzte Woche bin ich mit meiner Familie aus der Stadt geflohen. 2000 Dollar mussten wir den Schleppern dafür bezahlen. Es war keine leichte Entscheidung, aber am Ende hatten wir kaum eine andere Wahl. Wahrscheinlich war das zugleich der schrecklichste und der schönste Moment in meinem Leben: Wir sind dem IS lebend entkommen - aber wir mussten unsere geliebte Heimatstadt zurücklassen und wissen nicht, ob und wann wir zurückkehren können. Ich lebe jetzt in einem Camp im Norden von Mossul, das die UN hier aufgebaut hat. Jede Stunde checke ich Facebook und die Nachrichten und frage die Menschen im Camp, ob sie Neuigkeiten aus der Stadt haben. Ich mache mir Sorgen um alle meine Freunde und Verwandten, die noch in Mossul sind.

Als die Terroristen gekommen sind, haben sie uns zurück ins Mittelalter katapultiert. Sie haben alle Schulen und Universitäten geschlossen und durch Koran-Schulen ersetzt. Gerade wir Jugendliche waren leichte Opfer für sie: Entweder haben sie versucht, uns zu ködern, indem sie die großherzigen Beschützer gespielt haben, oder sie haben gedroht, dass wir alle in die Hölle kommen, wenn wir uns ihnen nicht anschließen. Viele meiner Freunde sind ihnen gefolgt. Ich wusste aber, dass diese brutalen Männer Lügner sind und keine richtigen Muslime.

Wenn die Stadt befreit ist, dann will ich endlich an die Universität und studieren: Mein Traum ist, Rechtsanwalt zu werden. Ich habe in den letzten Jahren so viel Grausamkeiten und Unrecht erlebt und will mich dafür einsetzen, dass die Menschen endlich die Gerechtigkeit erfahren, die sie verdient haben."

Abdullah (29), Gemüsehändler

"Als der IS 2014 in die Stadt gekommen ist, habe ich angefangen meinem Vater zu helfen, Gemüse zu verkaufen. Irgendwie mussten wir unsere Familie ja über die Runden bringen. Aber seit die irakische Armee die Offensive auf West-Mossul gestartet hat, können wir praktisch nicht mehr arbeiten. Das Gemüse ist zu teuer, die Bauern trauen sich nicht auf die Felder, weil es zu riskant ist.

Ich sitze deshalb in meinem Zimmer, lese zum zehnten Mal meine alten Studienbücher und warte darauf, dass uns irgendwer hier rausholt. Ich habe Angst, dass es ewig dauert, bis die Koalition es schafft, die Altstadt einzunehmen, und der Belagerungszustand aufhört. Ich habe Angst, dass wir bis dahin tot sind.

Mein bester Freund hat deshalb vor zwei Wochen versucht, aus diesem Todeskreis zu entkommen. Er wurde an einem Checkpoint am Stadtrand von einem Scharfschützen erschossen. Wir wissen bis heute nicht, wer ihn erschossen hat, nur so viel: Es war nicht der IS, es war eine der Milizen, die zusammen mit der Anti-IS-Koalition kämpfen. Denn am Ende kämpft hier jeder für seine eigenen Interessen - und die großen Verlierer sind die Zivilisten."

Sound-and-Picture ist ein Kollektiv von Bürgerjournalisten aus Syrien und dem Irak, 2015 gegründet von den Brüdern Mohammad und Aghiad Al-Kheder im südtürkischen Gaziantep. Die beiden stammen aus Al-Bokamal, einer syrischen Kleinstadt nahe dem Irak. Als 2011 in Syrien die Revolution gegen das Assad-Regime begann, fingen sie an, Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Anfang 2015 mussten sie in die Türkei fliehen. Als der IS im Dezember 2015 drei ihrer Kollegen in Gaziantep ermordete, ließ das deutsche Konsulat in Istanbul die Brüder aus der Türkei ausfliegen. Heute leben die Beiden mit ihren Familien in einer deutschen Kleinstadt, noch immer bekommen sie täglich Todesdrohungen von Anhängern des IS.

Nach eigenen Angaben arbeiten rund 60 Frauen und Männer ehrenamtlich für Sound-and-Picture. Sie berichten live aus den vom IS besetzten Gebieten - die meisten aus den syrischen IS-Metropolen Rakka und Deir-ez-Zor oder dem irakischen Mossul. "Wir kommunizieren über verschlüsselte Netzwerke, die IT-Experten für Sound-and-Picture entwickelt haben. Bislang ist es den Hackern des IS nicht gelungen, uns zu kapern", sagt Mohammad al-Kheder. Trotzdem haben die beiden Angst um ihre Leute: "Sollten sie bei der Arbeit erwischt werden, steht darauf die Todesstrafe."

Material, Fotos, Videos und Vor-Ort-Berichte, veröffentlichen die beiden teils auf ihrer Website www.sound-and-picture.com. Einen Großteil des Materials geben sie weiter an Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder kooperieren mit Medienhäusern wie BBC, CNN, Al Jazeera oder Le Monde.

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