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"Keine Deals mit Diktatoren"

Von Thomas Seifert

Politik

Wie Europa auf die Migrations- und Flüchtlingsfrage antworten soll, beschreibt eine neue Studie.


Wien. Die Zahlen sind schockierend: Über 65 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht vor Krieg, Unruhen, Dürre, Hunger und bitterster Armut - das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. 24 Menschen pro Minute sehen sich nach Zahlen des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.

Am Dienstag lud die Bertelsmann-Stiftung in Wien gemeinsam mit dem Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) in den Presseclub Concordia, um dort die Studie "Escaping the Escape" vorzustellen. In dem voluminösen Buch werden landesspezifische Fluchtursachen präzise beschrieben und Lösungsansätze präsentiert.

Die Autoren der Beiträge stammen allesamt aus Herkunfts- und Transitländern, die Experten der Bertelsmann-Stiftung haben die einleitenden Kapitel und Schlussfolgerungen geschrieben.

Fazit der Studie: Um die Migrations- und Fluchtströme zu bewältigen, müssen die Probleme in den Herkunftsländern angepackt werden. Dabei sollte die Europäische Union allerdings darauf verzichten, unappetitliche Deals mit Potentaten und Diktatoren einzugehen, welche die Menschenrechte von Schutzsuchenden einschränken. Zudem: Der einzige Weg, sicherzustellen, dass die Menschen in den Herkunftsländern von Schutzsuchenden und Migranten eine Zukunft haben, ist, dass sich die EU resolut gegen autokratische Führungsfiguren stemmt. "Gleichzeitig muss die EU die eigenen Handelsabkommen einer kritischen Prüfung unterziehen", sagt Christian Hanelt von der Bertelsmann-Stiftung und hat ein konkretes Beispiel parat: "Wenn die EU etwa ihre Märkte für die Exporte von tunesischen Oliven öffnet, eröffnet sie damit zigtausenden Olivenbauern eine Einkommenschance. Und das bringt viel mehr als Entwicklungshilfe."

Europa müsse zudem alles tun, damit der derzeitige "Ring of Fire" aus Konflikten von Nordafrika bis zum Nordirak durch einen "Ring of Friends" ersetzt wird. Dazu bedarf es neuer Initiativen in der europäischen Nachbarschaftspolitik. Zwölf von den 16 Nachbarstaaten der EU sind derzeit von Konflikten (oder eingefrorenen Konflikten) betroffen.

"Migrationsfantasien"

Zakariya el Zaidi, Aktivist einer libyschen Hilfsorganisation, spricht darüber, wie Schlepper mit "Migrationsfantasien" um "Klienten" werben: Die Schlepper würden den Schutzsuchenden und Migranten weismachen, dass die Überfahrt nach Europa problemlos sei. "Außerdem sagen sie den Leuten: Schaut mal, das Gras auf der anderen Seite des Hügels ist grüner." So würden sie bei den Flucht- und Migrationswilligen unerfüllbare Hoffnungen wecken, manche Facebook-Seiten von Schleppern würden sich lesen, wie ein Werbekatalog eines Reiseunternehmens. Sein Vorschlag: Finanzsanktionen gegen Schlepper und deren Familien, sodass sie von den Geldströmen abgeschnitten werden.

Afrika, so der Bericht, wird auch in Zukunft Schauplatz von Migrations- und Flüchtlingskrisen sein. Allein die Demografie werde dafür sorgen: 60 Prozent der afrikanischen Bevölkerung wird im Jahr 2025 unter 25 Jahren sein. Nach der Meinung von Experten wird Afrika in Zukunft Asien als bevölkerungsreichster Kontinent ablösen. Und wenn es nicht gelingt, die Lebensbedingungen auf dem afrikanischen Kontinent zu verbessern, dann wird der Migrationsdruck dort steigen.

Der Klimawandel würde die Situation zusätzlich verschärfen, sagt Hanel im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Schon jetzt komme es in einer Reihe von afrikanischen Ländern aufgrund veränderter Klimabedingungen immer häufiger zu Konflikten zwischen Hirten und Bauern.

Stefani Weiss schreibt in der Bertelsmann-Studie in ihrem Resümee, dass es in der Entwicklungspolitik eines Umdenkens bedürfe: Die Stärkung von Frauen erscheint ihr zentral. In Entwicklungsländern habe nur ein Viertel der Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln, was zu rund 80 Millionen ungewollten Schwangerschaften im Jahr führe. "Wenn die Bevölkerungsexplosion nicht eingedämmt werden kann, haben die Versuche, die Migrations- und Fluchtprobleme zu lösen, keinen Erfolg."