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"Das Parlament ist eine Showbühne"

Von Klaus Huhold

Politik

Die Wahlen in Algerien am heutigen Donnerstag seien alles andere als demokratisch, sagt der Politologe Rachid Ouaissa.


Algerien wählt am Donnerstag ein neues Parlament. Laut dem aus Algerien stammenden Politologen Rachid Ouaissa haben die Machthaber - Militär, Geheimdienste und einflussreiche Politiker - aber ohnehin die Sitze in der Volksvertretung schon verteilt. Trotzdem könnten laut Ouaissa unruhige Zeiten auf die Machthaber zukommen. Das Land befindet sich in einer wirtschaftlichen Krise, gleichzeitig sind islamistische Strömungen am Vormarsch.

"Wiener Zeitung": Die zwei großen Regierungsparteien, die Nationale Befreiungsfront (FLN) und die Nationale Demokratische Vereinigung (RND), gelten als Favoriten für die Parlamentswahl. Aber wie fair sind diese Wahlen überhaupt?

Rachid Ouaissa: Wahlen in Algerien waren nie demokratisch, außer vielleicht mit einer Ausnahme, im Jahre 1991. Ein ehemaliger Premierminister, Mouloud Hamrouche, sagte mir im Jahr 2007 - ich führte damals als Doktorand ein Gespräch mit ihm -, dass die Verteilung der Sitze schon vorher abgesprochen wird. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas geändert hat. Auch bei den letzen Wahlen gab es viele Ungereimtheiten. Das Ergebnis spiegelt also nicht den Wählerwillen wider. Die Verteilung der Sitze gibt vielmehr Aufschluss über die Machtverhältnisse innerhalb des Regimes.

Sind sich die algerischen Bürger dessen bewusst?

Das ist ein offenes Geheimnis. Ich gehe auch davon aus, dass dieses Jahr die Wahlbeteiligung sehr gering sein wird. Das ist ein Faktor, der das Regime zum Zittern bringt. Denn es kann Stimmen hin und her schieben, wie es will - eine geringe Wahlbeteiligung untergräbt sein Ansehen und seine Legitimität. Allerdings sind freilich auch die Zahlen zur Wahlbeteiligung manipulierbar.

Präsident Abd al-Aziz Bouteflikaist bereits 80 Jahre alt und offenbar schwer krank. Spielt auch das eine Rolle bei dieser Wahl?

Ja, das ist ein wichtiger Grund, warum diese Wahlen jetzt stattfinden. Die Zeit nach Bouteflika soll vorbereitet werden. Das Parlament ist eine Showbühne. Tatsächlich geht es darum, welche Kräfte den Korridor dahinter besetzen, um die Zeit nach Bouteflika zu bestimmen. Dabei spielt es eine Rolle, welche Partei wie groß im Parlament vertreten ist, auch Armee und Geheimdienst haben großen Einfluss. Ich glaube aber nicht, dass etwa ein Militär an die Macht kommt. Man braucht vielmehr Parteien, die den politischen Prozess legitimieren. Gerade in den schlimmen Zeiten der jetzigen Ölkrise, wenn die Bevölkerung blutet, können die Machthaber nicht vollkommen auf ihre Legitimität verzichten. Es ist eine Mischung aus demokratischen Elementen, Fassadendemokratie und Netzwerken im Hintergrund.

Algerien leidet unter dem Einbruch des Ölpreises, ist es doch stark vom Ölexport abhängig. Deshalb wurden Subvention gestrichen, steigen die Preise für Lebensmittel, hinzu kommt eine Jugendarbeitslosigkeit von geschätzt 32 Prozent. Wie angespannt ist die soziale Lage?

Sie ist enorm angespannt. Seitdem Bouteflika 1999 als Präsident an die Macht kam, gab es fast durchwegs hohe Erdölpreise. Das Regime hat Milliarden ausgegeben, ohne die Wirtschaft zu diversifizieren. Reformen waren nicht gewollt - man verteilte lieber das Geld, um Klientelpolitik zu betreiben. Nun sind aber nur noch Haut und Knochen übrig. Bouteflika sagte kürzlich, dass jetzt Wirtschaftsreformen durchgeführt werden müssten. In Krisenzeiten sind solche Reformen jedoch immer schmerzhaft. Neben der Nachfolge von Bouteflika ist die zweite eigentliche Frage dieser Wahl, ob es die nächste Regierung wagen wird, die Diversifizierung der Wirtschaft einzuleiten. Wenn ja, gehe ich davon aus, dass jetzige Oppositionsparteien künftig auch Teil der Regierung sein werden. Die FLN will sich wohl bei diesem schmerhaften Prozess nicht alleine die Hände schmutzig machen.

Wie stark ist die Mittelschicht, die teils von dieser Klientelpolitik profitiert hat, von der wirtschaftlichen Krise betroffen?

Wir erleben jeden Tag, wie die Mittelschicht immer mehr wegbricht. Bald beginnt etwa der Ramadan, und es zeigt sich, dass für die Mittelschicht Einkäufe wie früher nicht mehr machbar sind. Deshalb ist nun auch in Algerien ein Arabischer Frühling möglich.

Dabei ist dieser vielerorts nicht gut ausgegangen. Und Algerien hat selbst in den 1990er Jahren einen Bürgerkrieg zwischen Regierung und Islamisten erlebt, der zehntausenden Menschen das Leben kostete. Schreckt das nicht vor neuerlichen Aufständen ab?

Das Regime meldet immer wieder, dass Terroristen getötet wurden. Es zieht sozusagen den Sicherheitsjoker, und der schreckt die Menschen tatsächlich ab. Dennoch: Wenn die Mittelschicht und die Jugendlichen orientierungslos sind, sie keine guten Jobs und keine Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht haben, wenn die Öleinnahmen austrocknen, dann spielt diese Abschreckung nicht mehr eine so große Rolle. Vom Süden bis zum Norden des Landes erleben wir täglich Unruhen. Die Frage ist nur, ob diese Unruhen so zugespitzt werden können, dass aus ihnen ein so großes Ereignis wie der Arabische Frühling wird. Das ist schwierig vorherzusagen. Zu bedenken ist dabei, dass die Armee in den vergangenen Jahren aufgerüstet hat. Auch dafür wurde Geld ausgegeben.

Wie stark sind derzeit die Islamisten als politische Kraft ?

Sie sind gar nicht stark. Sie sind nur als kleine Parteien vorhanden. Viel gefährlicher sind derzeit Islamisten, die nicht als politische Parteien organisiert sind - etwa eine Reihe salafistischer Strömungen.

Islamisiert sich also die algerische Gesellschaft?

Die algerische Gesellschaft islamisiert sich in einem rasanten Tempo - durch Ideologien aus den Golfstaaten, durch den Salafismus und verschieden andere radikale Strömungen.

Warum konnten diese Strömungen Fuß fassen und wie gefährlich sind sie?

Die Salafisten meinen, sie sind apolitisch. Jugendliche, die durch das Regime Bouteflika entpolitisiert wurden, finden Zuflucht in den spirituellen Diskursen der Salafisten, die aber hochgefährlich sind. Das Bild Algeriens hat sich verändert: Als ich an der Universität studiert habe, musste man eine Frau mit Kopftuch noch lange suchen. Heute ist das Gegenteil der Fall. Das Straßenbild hat sich in seiner Ästhetik islamisiert, islamistische Symbole sind nun sehr präsent. Dabei gehören diese gar nicht zur algerischen Tradition - Algerien ist islamisch, aber nicht islamistisch. Ich halte diese Entwicklung für sehr gefährlich.

In Europa ist von Algerien - wie auch von anderen Maghreb-Staaten - vor allem in Zusammenhang mit Flüchtlingen die Rede. Wie weit war das im Wahlkampf Thema?

Es war kein großes Thema. Flüchtlinge kommen nicht über Algerien nach Europa, das ist allein wegen der Geographie schwierig. Algerien wird eher als Transitland nach Marokko oder Tunesien passiert. Der Wunsch auszuwandern, ist aber auch in Algerien, vor allem unter Jugendlichen, groß. Das betrifft weniger die marginalisierten Armen als die Mittelschicht - Leute, die eine gute Ausbildung, aber in Algerien keine Perspektiven haben.

(ast) Das Wirtschaftswachstum in Algerien verlangsamt sich heuer von 3,3 auf 1,6 Prozent. Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen und die Abwertung des algerischen Dinars dürften zu einer höheren Inflation führen. Für 2017 werden 7,7 Prozent erwartet, nach bereits 6,2 Prozent 2016.

Algerien bleibt trotzdem 2017 Österreichs wichtigste Exportnation im Maghreb - nach Südafrika und Ägypten belegt das nordafrikanische Land Nummer drei der Top-Exportdestinationen am afrikanischen Kontinent, obwohl die Warenausfuhren im vergangenen Jahr um mehr als 17 Prozent eingebrochen sind. 2016 betrugen die österreichischen Exporte nach Algerien insgesamt 202 Millionen Euro. Den höchsten Anteil davon nahmen laut Daten der Wirtschaftskammer Kraftfahrzeuge mit knapp 80 Millionen Euro ein, gefolgt von Maschinenerzeugnissen mit einer Summe von rund 40 Millionen Euro. Österreichs Importe aus dem rohstoffreichen Land bestehen in erster Linie aus Rohöl - diese nahmen jedoch im vergangenen Jahr um mehr als 50 Prozent ab und betrugen nur mehr 151 Millionen Euro.

Wirtschaftsbeziehungen zu Österreich

Zur Person

Rachid Ouaissa

wurde 1971 in Algerien geboren. Seit März 2009 leitet er den Lehrstuhl Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mitteloststudien an der Philipps-Universität im deutschen Marburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen etwa Staat und Gesellschaft in der arabischen Welt oder auch islamistische Bewegungen.