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Die zwei Realitäten Venezuelas

Von Konstanze Walther

Politik

Der Lateinamerika-Experte Ulrich Brand über den Konflikt im Land, Verschwörungstheorien und die Politik der leeren Supermärkte.


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Blutige Zusammenstöße zwischen Militär und Regimegegnern sind an der Tagesordnung.
© reu/Ramirez

Für die einen war Venezuelas 2013 verstorbener Präsident Hugo Chávez gottgleich und sein Nachfolger Nicolás Maduro vervollständigt sein Werk - den Sozialismus des 21. Jahrhunderts in einem der ölreichsten Länder der Erde. Für die anderen ist Venezuela längst in eine Diktatur abgeglitten, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung.<p>Die "Wiener Zeitung" hat mit dem Lateinamerika-Experten Ulrich Brand über die unterschiedliche Wahrnehmung der Realität und etwaige Auswege aus der verfahrenen Situation gesprochen.<p>"Wiener Zeitung": Venezuela war mit der Wahl von Hugo Chavez 1999 so etwas wie die Vorhut der sogenannten rosa Welle in Lateinamerika: In den Nullerjahren haben, nach zwanzig Jahren der konservativen Politik, immer mehr Länder Politikern mit sozialistischen Programmen ihre Stimme gegeben. Venezuela ist insofern ein Sonderfall, als in keinem anderen Land in Südamerika die Fronten derart verhärtet sind. Die Wahrnehmung der Realität geht in den sich gegenüberstehenden Lagern - Chavisten und der konservativ dominierten Opposition - komplett auseinander. Wieso ist das so?

<p>Ulrich Brand: Den Grundstein dafür hat Hugo Chávez im Februar 2005 gelegt. Damals war er schon sechs Jahre an der Macht und rief den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" aus. Damit einhergegangen ist eine "Zentralisierung" der Politik. Die ausgegebene Parole war: "Die sozialistische Partei weiß, wo es lang geht." Das hat zu einem Schwarz-Weiß-Dispositiv geführt. Davon war nicht nur die Opposition betroffen, die noch 2002 versucht hatte, gegen Chávez zu putschen, sondern auch Kritik im eigenen linken Lager. Ein kritischer Chávismus wurde nicht mehr erwünscht. Die Teile der Gesellschaft, die gesagt haben, "Stopp, wir machen Fehler, wir dürfen nicht so autoritär werden, wir müssen die Lebendigkeit von unten erhalten", die wurden nicht mehr gehört.<p>Warum protestieren die Menschen gerade jetzt so vehement?<p>Chávez’ Nachfolger Maduro hat bei der Präsidentschaftswahl 2014 nur 50,6 Prozent bekommen. Er ist also relativ schwach. In dem Jahr ist auch der Preis für Erdöl, Venezuelas Haupteinnahmequelle, deutlich gefallen. Und Maduros Regierungspartei hat im Dezember 2015 sehr deutlich die Wahl zum Parlament verloren. Maduro ist zwar noch gewählter Präsident, aber hat jetzt das Parlament als Opposition. Man kann sagen, dass Maduro seit Anfang 2016 nur damit beschäftigt ist, seine Macht zu erhalten. Er weiß um seine Schwäche. 2016 hat die Opposition auch versucht, ein Referendum über seine Absetzung durchzubekommen, das hat die Regierung erfolgreich verzögert. Ich würde sagen, 2016 war das Parlament der Ort der Opposition, und nachdem das Parlament nun offensichtlich zu schwach ist, ist nun die Opposition auf die Straße verlegt worden.<p>Zur Lage in Venezuela kursieren viele Verschwörungstheorien. Bei einer geplatzten Filmvorführung in Berlin in Zusammenarbeit mit der venezolanischen Botschaft wurden Kritiker, die Protestaktionen planten, gleich in die Nähe des rechten chilenischen Ex-Diktators Pinochet gerückt. <p>Es tobt ein Kampf um die öffentliche Meinung. Wer zählt die Toten, wer reklamiert sie für sich. Das ist absurd. Es sind bei dieser Protestwelle schon fast 40 Menschen getötet worden. Das ist eine Hoffnungslosigkeit, eine derartige Zuspitzung, dass es überhaupt keinen verhandelbaren Ausweg mehr gibt. Die Möglichkeit, dass Maduro die Opposition in die Regierung nimmt, ist weg, die finden keine Gemeinsamkeiten.<p>Opposition und Regierung sind in zum Teil abstrusen gegenseitigen Anschuldigungen verstrickt.<p>Ja, ich habe erst kürzlich in offiziellen Dokumenten der venezolanischen Botschaft genau diese Lesart wiedergefunden: Verschwörungen, Zuspitzungen - und kein Deut Selbstkritik. Sie sollen sich nicht kasteien, aber sie sollen sagen, dass auch ihr Lager Fehler gemacht hat. Aber nein. Sondern es gibt "Geheimfotos" und Behauptungen, wie "schlecht" die Opposition ist, sowie Anspielungen auf die Rolle der USA. Das ist schrecklich. Mir verursacht das wirklich Schmerzen, dieses Aufwieglerische, das von der Regierung mitproduziert wird. Wobei man nicht unterschätzen sollte: Es gibt weiter eine große Unterstützung für die sozialistische Politik. Die breite Bevölkerung weiß schon, was sie zu verlieren hat. Sie kann nach Argentinien blicken und nach Brasilien und weiß, dass die rechten Regierungen sofort Politik für die Oligarchen machen. Die Anhänger von Maduro gehen ja auch genauso auf die Straße.<p>Wie könnte die Situation entschärft werden?<p>Entweder ruft Maduro Neuwahlen aus, von denen er aber weiß, dass er sie verlieren würde. Aber das könnte zu einer Beruhigung führen. Oder die Haltung des Militärs, das derzeit noch Pro-Regierung ist, verändert sich. Denn zuletzt hat die Opposition das Militär direkt angerufen, damit es sich auf ihre Seite schlägt. Ein Faktor ist nun auch, da die Wirtschaftslage in Venezuela gerade so dramatisch ist, dass sich die Menschen nach Stabilisierung sehnen: Da ist die Frage: Kippen, neben dem Militär dann auch die Armen? Fangen die Armen, die noch Maduro unterstützen, auch an, zu protestieren? Da muss man jetzt die nächsten Tage und Wochen abwarten.<p>Sogar der Papst, der in Lateinamerika einen besonderen Stellenwert genießt, wurde von der Opposition schlicht ausgeladen, als er sich angeboten hat, zu vermitteln.<p>Da sieht man, dass selbst über die Einladung einer so moralischen Figur wie des Papstes sich die beiden Seiten nicht mehr respektieren. Es gibt keine gegenseitige Anerkennung.<p>Bedeutet die Option, dass das Militär entscheiden wird, ein blutiges Ende und einen Bürgerkrieg?<p>Zum Glück hat Venezuela keine blutige Tradition. Ich kann mir vorstellen, dass die Militärspitze zu der Entscheidung kommt, dass es so nicht weitergehen kann, dass die politische Krise zu tief ist und deswegen eine Veränderung her muss. Aber ich erwarte keinen offenen Bürgerkrieg. Venezuela ist ja nicht Argentinien oder Chile, wo es diese brutalen historischen Erfahrungen gibt.<p>Apropos Chile: Eines der Gerüchte, das kursiert, besagt, dass Venezuela Opfer eines Wirtschaftskrieges von außen, genauer gesagt, von den USA ist - so wie es seinerzeit der US-Präsident Richard Nixon in den 1970er Jahren mit Chile gehalten hat, um den sozialistischen Salvador Allende zu stürzen. Natürlich halten die USA den Ölpreis nicht auf dem niedrigen Stand, aber die USA haben doch das eine oder andere Embargo verhängt. Die Supermärkte sind leer. <p>Die Einmischung von außen ist nicht ganz auszuschließen, aber nicht der entscheidende Faktor. Der ist nämlich, dass die venezolanische Regierung eine schlechte Wirtschaftspolitik gemacht hat, die komplett abhängig von den Rohstoffpreisen, vor allem Erdöl, ist. Die Wirtschaftskrise ist hausgemacht. Dass die Supermärkte so leer sind, kann allerdings schon auch auf eine bewusste Zurückhaltung von Waren zurückgeführt werden. Aber das ist eher der internen Polarisierung geschuldet.<p>Was meinen Sie damit?<p>Im Jänner gab es eine Statistik, dass nur 40 Prozent der Industriekapazitäten ausgelastet sind. Das ist jetzt nicht nur die fehlende Nachfrage, sondern da wird sicher auch Politik gemacht mit solch schwacher Auslastung.<p>Sind die leeren Regale dann die Entscheidung der Opposition, um dem Land zu "zeigen", wie schlecht es ihm geht? Oder der Regierung, um zu "zeigen", dass der Feind das Land "boykottiert"?<p>Es ist beides. Ich glaube schon, dass die Wirtschaftselite, die stark mit der Opposition zusammenhängt, den Anspruch hat, diese Regierung schwächen zu wollen. Das würde ich nicht unterschätzen. Trotzdem sind das alles Spekulationen, und man wird es erst im Nachhinein erfahren. Ich will mich da auch nicht in Verschwörungstheorien begeben. Jetzt ist es jedenfalls eine Schwäche der Regierung, und dann ist es sicherlich auch eine Tatsache, dass bestimmte Unternehmen ihre Produktion zurückhalten.<p>Das Feindbild USA ist bei allen lateinamerikanischen Linken stets präsent. Vor kurzem hat der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, H.R. McMaster, den venezolanischen Oppositionspolitiker Julio Borges in Washington getroffen. Und schon war in den einschlägigen Blättern wieder der Alarm ausgelöst: "So, jetzt werden sie - also die USA - wieder eingreifen." Ist die Vergangenheit der 1970er Jahre ein unüberwindbares Trauma für den Kontinent? Wie realitätsnah sind solche Befürchtungen tatsächlich? <p>Ich glaube, so eine offene Militärintervention wird es nicht geben. Trump hat ja auch betont, sich im Ausland nicht einmischen zu wollen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich den zuständigen Admiral der US-Armee, der vor einigen Tagen gesagt hat, dass es aufgrund der instabilen Lage eventuell eine "regionale Antwort" geben sollte. Wie immer diese aussehen soll. Es gibt eine klare US-Präferenz für eher konservative Regierungen, ob Obama oder Trump, aber noch würde ich eine Einmischung seitens der USA nicht überschätzen.<p>Für manche ist Venezuela schon in eine Diktatur abgeglitten, für andere noch immer das gelebte Bollwerk des Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wie würden Sie den Staat bezeichnen.<p>Ich würde einen für die Politikwissenschaft neuen Begriff verwenden und Venezuelas Staatsform als "Krisenautoritarismus" bezeichnen. Venezuela wurde von Chávez schon als autoritäres Projekt angelegt, und jetzt in der Krise tritt der Autoritarismus ganz offen zutage.

Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien. Er hat 2016 das Buch "Lateinamerikas Linke" herausgegeben und ist im Vorstand des Österreichischen Lateinamerikainstituts.