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Die gekaufte Republik

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

Politiker, die Korruption als Teil des Geschäfts sehen: Die Affäre um Präsident Temer ist ein brasilianisches Sittenbild.


Rio de Janeiro. Die Frage ist nicht, ob Brasiliens Präsident Michel Temer im Amt bleibt, sondern nur: wie lange noch? Nachdem der größte Medienkonzern des Landes, "O Globo" in einem aufsehenerregenden Meinungsbeitrag seinen Rücktritt gefordert hat, besitzt Temer so gut wie keine Verbündeten in der Gesellschaft mehr.

Tonaufnahmen, deren Inhalt zuerst von "Globo" veröffentlicht wurden, belasten Temer schwer. Die Mitschnitte wurden von Joesley Batista, Chef des größten Fleischkonzerns der Welt JBS in Temer Privatresidenz anfertigt. Zu hören ist, wie Temer verschiedene Schmiergeldzahlungen billigt. Unter den Empfängern ist Temers Parteikollege Eduardo Cunha, der wegen Korruption im Gefängnis sitzt. Batista brüstet sich auch damit, Richter zu bestechen, woraufhin Temer sagt: "Sehr gut, sehr gut."

Im Editorial des "Globo"-Konzerns heißt es nun, Temer sei weder moralisch noch politisch in der Lage, das Land zu führen. Er müsse gehen. "Globo" ist in Brasilien eine Macht für sich, wird mitunter auch "die vierte Gewalt" genannt. Mit 122 Fernsehstationen, mehr als 80 Radiosendern, 15 Zeitschriften und vier Tageszeitungen hat die Firma eine Art Medienmonopol. Ihr Netz aus Fernsehkanälen ist das zweitgrößte der Welt, jeden Tag wird "Globo TV" von 91 Millionen Brasilianern gesehen - das ist fast die Hälfte der Bevölkerung.

Ohne die Unterstützung "Globos" dürfte Temer keine Chance haben, sich lange im Amt zu halten. Er hat zwar am Montag erneut einen Rücktritt ausgeschlossen, Temer sieht sich als Opfer eines Hinterhalts. Nur nimmt ihm niemand die Unschuldsbeteuerungen ab - auch wenn natürlich stimmt, dass Batista ihn in eine Falle gelockt hat. Temers Behauptung, dass die die Tonbandaufnahmen manipuliert worden seien, hat sich aber als falsch erwiesen.

Die Abkehr "Globos" von Temer wiegt umso schwerer, weil Temer es der "Globo"-Gruppe maßgeblich zu verdanken hat, im Amt zu sein. "Globo" hatte die dubiose Absetzung von Temers demokratisch gewählter Vorgängerin Dilma Rousseff mit seiner manipulativen Berichterstattung vorangetrieben. Von Temer erwartete "Globo" dann die Umsetzung einer neoliberalen Agenda mit der Beschneidung von Arbeitnehmerrechten, Kürzung der Sozialausgaben sowie der Aufhebung von Umweltschutzbestimmungen. Er sei nun "nicht mehr in der Lage, Reformen durchzusetzen", so "Globo".

1829 Politiker standenauf der Schmiergeldliste

Temer war im Herbst 2016 angetreten, Brasilien aus der tiefen Wirtschaftskrise zu führen, in die das Land ab 2012 gerutscht war. Zwar wurde er von der Bevölkerung abgelehnt (seine Zustimmungsrate lag zuletzt im einstelligen Bereich), aber die Märkte reagierten positiv auf ihn. Die Wirtschaft zeigte Wachstumstendenzen, die Inflation schrumpfte auf Normalmaß, es gab wieder Jobs. Mit dem Skandal ist all das hinfällig. Die Börsen reagierten mit dramatischen Kursverlusten, die brasilianische Währung Real brach ein.

Und immer weitere Details der Korruptionsaffäre kommen ans Tageslicht. Ein Manager des Fleischkonzerns JBS hat in einer Kronzeugenaussage erklärt, dass Temer im Jahr 2014 um umgerechnet rund fünf Millionen Euro gebeten habe, um sie unter verbündeten Politikern zu verteilen. Rund 300.000 Euro habe er für sich selbst behalten.

Dass man mit etwa einer Million Euro fünf Abgeordnete kaufen könne, hat JBS-Chef Joesley Batista nonchalant gestanden. Auf einer Liste von JBS stehen 1829 Politiker als Empfänger von Schmiergeldern. Manche sind Lokalpolitiker, andere Minister. Sie gehören insgesamt 28 Parteien an. Man habe sich eine Reserve von Politiker halten wollen, die die Interessen des Konzern bei Entscheidungen berücksichtigen, sagte ein JBS-Manager. Etwa ein Drittel des aktuellen brasilianischen Kongresses hat Geld von JBS bekommen.

Inflation von Kronzeugenaussagen

Vor dem Hintergrund solcher Enthüllungen über ihre vermeintliche Elite reagieren viele Brasilianer mit Wut. Wer keine Angst vor der brutalen Militärpolizei hat, geht auf die Straße; andere machen ihrem Unmut im Netz Luft. Viele suchen Zuflucht im Humor. Da wird etwa Michel Temers 42 Jahre jüngere Ehefrau Marcela in ein Profil der Partnersuchapp Tinder hineinmontiert. Soll heißen: Sie ist wieder auf der Suche. Der Alte ist erledigt.

Manch einer fragt sich allerdings auch, wohin die Inflation von Kronzeugenaussagen noch führen wird, mit denen sich in Brasilien derzeit die Manager und Chefs führender Konzerne Straferleichterungen erkaufen. Sie haben über Jahrzehnte die Politik geschmiert und dafür staatliche Aufträge sowie gesetzliche und steuerliche Vorteile erhalten. So wuchsen sie zu sogenannten nationalen Champions, die in Brasilien Monopolstellungen eroberten und international konkurrieren konnten. Sowohl die Fleischfirma JBS als auch der Baukonzern Odebrecht sind dafür gute Beispiele.

Doch solche Fragen schrumpfen zu Nebensächlichkeiten angesichts der existenziellen Krise des Staats. Brasiliens Bundesanwalt Rodrigo Janot hat Ermittlungen gegen Präsident Temer in drei Fällen eröffnet. Passive Korruption, Behinderung der Justiz und Organisation einer kriminellen Vereinigung.

Dass Temer nicht schon längst seinen Platz freigemacht hat, gehört zu den Besonderheiten Brasiliens. Politiker treten hier auch bei schwersten Vorwürfen nicht zurück. Die Kultur der Korruption ist so tief verwurzelt, dass sie kein Unrecht mehr erkennen können. Brasiliens Weg aus der Krise ist lang. Michel Temer könnte ihn durch einen Rücktritt leicht verkürzen.