Brasilia. Es ist fast ein Jahr her, seit die linke brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff von ihrem Amt enthoben wurde. Am 31. August 2016 stimmten 61 von 81 Senatsmitgliedern für eine Anklage wegen Amtsvergehen der Präsidentin, Rousseff wurde damit auch von ihrer Position entfernt. Die Amtsgeschäfte übernahm der Konservative Michel Temer - langjähriger Vize von Rousseff in der Regierung und Präsident der Partei PMDB, dem bisherigen größten Koalitionspartner von Dilma Rousseffs Arbeiterpartei (PT)
Viele sahen in dem Amtsenthebungsverfahren die Handschrift Temers, der endlich an die Macht wollte. Und nun, ein Jahr später, ist Temer selbst als erster amtierender Präsident der Korruption angeklagt worden. Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot reichte die Klage beim Obersten Gericht des Landes in Brasilia ein. Temer wird vorgeworfen, 500.000 Real (rund 130.000 Euro) Schweigegeld angenommen zu haben.
Zudem wird ihm Behinderung der Justiz angelastet. Temer soll jahrelang Schmiergelder für seine Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) von dem Unternehmer Joesley Batista kassiert haben. Batista, Besitzer des größten Fleischproduzenten der Welt, der Firma JBS, gegen den die Justiz auch ermittelte, hatte Temer angezeigt und unter anderem einen heimlich aufgenommen Mitschnitt eines Gesprächs zwischen den beiden als Beweisstück von Schmiergeldern vorgelegt. Zudem war Temers Vertrauter Rocha Loures mit einem Geldkoffer gefilmt worden - Bestechungsgeld von JBS für den inzwischen inhaftierten Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha. Cunha war ausschlaggebend im Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff.
Zwei Drittel der Abgeordneten wären für Suspendierung nötig
Das Parlament muss nun entscheiden, ob Temer aufgrund der Vorwürfe gegen ihn für sechs Monate vom Amt zu suspendieren ist. Dafür bräuchte der Richter aber 342 der 513 Stimmen in der brasilianischen Abgeordnetenkammer. Und Experten zufolge ist das Erreichen dieser Zwei-Drittel-Mehrheit höchst unwahrscheinlich. Temer ist zwar in der Bevölkerung höchst unbeliebt - doch das tut der Loyalität unter Politikern keinen Abbruch. In Sachen Korruptionsverwürfen scheint bei den Abgeordneten noch das Gesetz des Schweigens und Zusammenhaltens zu gelten. Denn die Korruption ist tief in Brasiliens politischem wie ökonomischen System verwurzelt.
Ursula Prutsch, Professorin am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München, führt das unter anderem auf das geltende Wahlsystem im größten Land Südamerikas zurück. Prutsch war diesen Monat in Wien bei der diesjährigen Lateinamerika Tagung, die das Österreichische Lateinamerika-Institut in Kooperation mit der Universität Wien ausgerichtet hat. "Das brasilianische Wahlsystem ist stark auf Individuen ausgerichtet und verschlingt sehr viel Geld. Ein Wahlkampf in Brasilien ist so teuer wie ein Wahlkampf in den USA. Diejenigen, die dann in Ämter gehievt werden, sind abhängig von ihren Geldgebern, die sehr oft aus der Wirtschaft kommen", berichtet Prutsch. Dazu komme die Tatsache, dass in dem 200-Millionen-Einwohner-Land unzählige Parteien den Sprung in eine der beiden Kammern schaffen. "Es gibt, anders als in Deutschland oder Österreich keine Hürde, wie einen Stimmenanteil von drei oder fünf Prozent, um ins Parlament zu kommen." Sogar Rousseffs populärer Vorgänger und politischer Ziehvater, Lula da Silva, hatte seine Regierung mit einer Koalition aus zehn Parteien gebildet. Und der stärkste Koalitionspartner, die ewige Nummer Zwei, war die Partei des jetzigen Präsidenten Temer. Das Ergebnis: "Man schafft Koalitionen mit Parteien, die weltanschaulich woanders stehen als man selbst. Und um bestimmte Programme durchzubringen zahlt man Schmiergeld. Es gab schon Korruptionsskandale, die die Arbeiterpartei von Lula im Jahr 2005 eingeholt haben. Nur damals war der Wirtschaftsboom so gut, dass sich die Brasilianer gedacht haben: ‚Okay, korrupt sind sowieso alle. Aber wenigstens tun die, die jetzt in der Regierung sind, etwas.‘" Die Arbeiterpartei von Lula hat sich laut Prutsch schnell ins System "integriert", und dann auch andere Abgeordnete geschmiert, um im Kongress genügend Stimmen zu bekommen. Dazu komme, dass Politik und Wirtschaft sehr miteinander verflochten sind durch Parteien- und Wahlfinanzierung. "Teilstaatliche Unternehmen wie Petrobras zahlen Schmiergelder, machen Politiker abhängig, und das Geld dieser Unternehmen kommt - steuerlich nicht erfasst - aus ,zweiten Kassen‘. Es ist ein unglaublicher Korruptionssumpf."
Ex-Präsidentin Dilma Rousseff habe versucht, teilweise erfolgreich, eine Reihe von Anti-Korruptionsgesetzen einzuführen. Nach Meinung von Beobachtern der ausschlaggebende Grund, weshalb sich so viel Widerstand gegen Rousseff formiert hat. Der offizielle Grund ihrer Amtsenthebung war das geschönte Haushaltsbudget. "Unsinn", meint Prutsch. "Hauptmotiv für die Amtsenthebung war die Hoffnung, dass die Korruptionsermittlungen aufhören würden, was aber nun nicht der Fall ist."