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Am Rande des Abgrunds

Von Siobhán Geets

Politik

Verschließt der Westen weiterhin die Augen vor dem Konflikt im Jemen, wird sich das rächen, sagt Shabia Mantoo.


Sanaa/Wien. Hilfsorganisationen befürchten den Beginn eines grausamen Trends: Vor der Küste des Jemen zwingen Schlepper Migranten, aus dem Boot zu springen, danach machen sie sich auf den Rückweg nach Somalia, um noch mehr Menschen zu holen. Dutzende ertrinken in der stürmischen See. Nachdem Schmuggler am Mittwoch 120 Menschen ins Meer gestoßen hatten, weil sie fürchteten, von der Küstenwache entdeckt zu werden, zwangen sie am Donnerstag etwa 180 weitere, in den Golf von Aden zu springen. Mehr als 100 Menschen sind dabei insgesamt ertrunken.

Doch auch wer die gefährliche Überfahrt überlebt, ist nicht sicher: Im Jemen tobt ein Bürgerkrieg, der Staat steht am Rande des Zusammenbruchs.

"Wiener Zeitung": Rund 55.000 Migranten kamen heuer bereits vom Horn von Afrika in den Jemen. Stimmt es, dass die meisten in den reichen Golfstaaten arbeiten wollen und nicht Europa als Ziel haben?Shabia Mantoo: Soweit wir wissen, sind die meisten auf der Durchreise oder bleiben im Jemen. Als im März ein Boot attackiert wurde (42 Somalier starben beim Beschuss durch einen Kampfhubschrauber, Anm.), erfuhren wir, dass die meisten der Flüchtlinge in den Sudan wollten. Je länger der Konflikt im Jemen dauert, desto mehr Menschen werden versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Sie kommen in den Jemen, um Gewalt und Verfolgung in ihren Heimatländern am Horn von Afrika zu entkommen. Mitunter reisen sie auch in die Golfstaaten oder nach Europa weiter.

Schlepper haben in den vergangenen zwei Tagen rund 300 Menschen von Booten ins Wasser gestoßen. Was sind das für Typen, woher kommen sie?

Wir wissen es nicht. Sicher ist, dass der Konflikt das Ausmaß der Schleuserei vom Horn von Afrika Richtung Jemen erhöht. Wir versuchen den Menschen klarzumachen, wie gefährlich die Reise ist, wie skrupellos die Schleuser. Mit unserer Kampagne "Dangerous Crossing" ("Gefährliche Überfahrt") am Horn von Afrika wollen wir den Menschen klarmachen, dass sie riskieren, misshandelt, gefoltert und getötet zu werden. Sie werden vergewaltigt und erpresst. Dennoch geht die Schleuserei weiter, sie profitiert von den unsicheren Zuständen und dem Konflikt.

Im Jemen wurden 8000 Menschen getötet, seit eine von Saudi-Arabien geführte Koalition die sunnitische Regierung gegen die schiitischen Houthi-Rebellen unterstützt. Nun kommt auch noch ein Cholera-Ausbruch dazu. Wie ist die humanitäre Lage im Land?

Es handelt sich um die weltweit größte humanitäre Krise. Mehr als 20 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Jeden Tag eskaliert die Lage mehr. Die Cholera-Epidemie ist eine direkte Folge des Konflikts. Viele Menschen haben Angehörige verloren, die Verzweiflung ist groß, die Armut wird immer schlimmer. Wir erleben einen Zusammenbruch der staatlichen Strukturen, Gesundheits- und Bildungssystem brechen zusammen. Die Menschen sterben an vermeidbaren Ursachen.

Es handelt sich ja nicht um Ebola - Cholera ist eine leicht zu vermeidende und gut behandelbare Krankheit. . .

Das Problem ist, dass das Gesundheitssystem nicht mehr funktioniert: Ärzte und Pflegepersonal kommen häufig nicht mehr in die Krankenhäuser, weil sie kein Gehalt mehr bekommen. So geraten prinzipiell schnell heilbare Krankheiten wie Cholera außer Kontrolle und werden zu Epidemien. Doch es kann noch schlimmer werden. Heute ist es Cholera, wer weiß, was morgen auf uns zukommt. Mittlerweile ist fast jeder Haushalt im Jemen vom Konflikt betroffen, die Gräben ziehen sich durch die Gesellschaft. Je länger der Konflikt anhält, desto geringer wird die Aussicht auf nachhaltigen Frieden.

Tut die internationale Gemeinschaft genug, um der Bevölkerung zu helfen?

Drei Dinge müssen geschehen: Erstens brauchen wir humanitäre Hilfe sowie Unterstützung bei der Schaffung von Frieden und beim Wiederaufbau. Obwohl es sich um die größte humanitäre Krise handelt, bekommt sie wenig Aufmerksamkeit. Es sind erst 50 Prozent dessen eingelangt, was das Land heuer noch an Hilfsgeldern braucht. Der UNHCR ist gar nur zu 42 Prozent finanziert. Das bedeutet, dass wir Prioritäten setzen müssen. Zweitens muss es Friedensinitiativen geben. Die internationale Gemeinschaft muss diese Initiativen stützen. Ohne Frieden wird die Gesellschaft immer weiter zusammenbrechen, es wird immer mehr Bedarf an humanitärer Hilfe geben. Und drittens werden wir Hilfe brauchen, um die staatlichen Strukturen im Jemen wieder aufzubauen. Das Land befindet sich am Rande des Kollapses: Die Gewalt, der Hunger, die Krankheiten... diese Krise ist von Menschenhand geschaffen.

Welche Staaten könnten bei der Schaffung von Frieden im Jemen eine Rolle spielen?

Die internationale Gemeinschaft hat den Jemen vernachlässigt. Gibt es mehr Aufmerksamkeit für die Krise, wird es automatisch größere Anstrengungen geben, den Konflikt beizulegen. Die Konfliktparteien müssen Frieden schließen, die internationale Gemeinschaft muss das absegnen und unterstützen. Im Moment ist der Jemen schlicht nicht auf dem Radar - das muss sich ändern.

Inmitten von Gewalt, Krieg und Epidemien kommen noch zehntausende Flüchtlinge ins Land. Wie können sie im Jemen überleben?Im vergangenen Jahr sind rund 117.000 Menschen, die meisten davon Äthiopier und Somalier, vom Horn von Afrika in den Jemen gekommen. Viele fliehen vor Gewalt und Verfolgung, aber die meisten sind keine Flüchtlinge, sondern Migranten auf der Suche nach Arbeit. Doch der Jemen ist für niemanden ein sicherer Ort. Wie können wir jene, die vor der Gewalt in ihrer Heimat fliehen, schützen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht sicher ist? Das ist sehr schwierig. Rund 75 Zivilisten tötet oder verletzt der Krieg jeden Tag. Und es gibt kaum staatliche Strukturen, um Flüchtlinge zu unterstützen.

Europa fühlt sich vom Krieg im Jemen nicht betroffen, es kommen kaum Flüchtlinge von dort in die EU. Wieso sollten sich EU-Politiker für ein Ende der Gewalt einsetzen?

Viele Menschen im Westen denken, bei der Gewalt im Jemen handle es sich nicht um eine globale Krise. Doch genau das ist sie. Das Land befindet sich am Rande des Abgrunds, das wird sich direkt auf die weltweite Sicherheitslage auswirken. Das ist nichts, was wir unter den Teppich kehren können, wir sollten nicht so kurzsichtig sein. Einmal außer Kontrolle wird der Jemen zum globalen Problem. Dann könnte es zu spät sein, noch auf die Bremse zu treten.

Wie sieht so ein Kontrollverlust aus und wie würde er Europa betreffen?

Destabilisierte Staaten sind eine Brutstätte für radikale Gruppen. Wir kennen das aus anderen Ländern in der Region. Der Jemen braucht Rechtsstaatlichkeit und Frieden. Ein Machtvakuum verschafft gefährlichen Gruppen immer eine Umgebung, in der sie operieren können. Zudem stehen im Jemen die Leben von mehr als 20 Millionen Menschen auf dem Spiel. Es gibt die internationale Pflicht zu helfen.

Zur Person

Shabia
Mantoo

ist seit 2016 Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR im Jemen. Zuvor war die 33-jährige Australo-Britin und studierte Juristin in der Zentrale des UNHCR in Genf tätig.