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Eine stille Revolution

Von Lisa Settari

Politik

In Algerien kämpft eine Initiative gegen rigide Kleidungsvorschriften für Frauen an Stränden.


Algier/Wien. Islam, Frauen, Bademode - alle Zutaten für eine brisante Debatte schienen vorhanden. Was Frauen in der Öffentlichkeit tragen dürfen, erhitzte bereits im vergangenen Sommer während der Burkini-Debatte an der Côte d’Azur die Gemüter. Badeanzüge und Bikinis sorgen nun auf der anderen Seite des Mittelmeers, in Algerien, für Diskussionsstoff. Im Juli erweckte ein Artikel in der algerischen Tageszeitung "Le Provincial" den Anschein, es bahne sich eine neue Revolution an, in der progressive Frauen gegen die selbsternannte islamistische Moralpolizei aufbegehrten. In der Küstenstadt Annaba hätten sich mehr als dreitausend Frauen auf einer Facebook-Gruppe zusammengetan, um gemeinsam im Badeanzug oder Bikini an den Strand zu gehen und diese freizügigen Outfits somit salonfähiger zu machen.

Die Geschichte wurde schnell von Blättern wie dem französischen "L’Obs", dem italienischen "Corriere della Sera" oder dem britischen "Independent" aufgegriffen. Doch dann wurde in algerischen Massenmedien verlautbart, dass es diese Initiative nur auf Facebook gäbe, an den algerischen Stränden eine Revolution weder sichtbar noch nötig wäre. Westliche Medien hätten eine Polemik aus dem Netz aufgegriffen und zu einem feministischen Aufstand unterdrückter Frauen in Algerien stilisiert. Tatsächlich findet eine stille Revolution statt. Dass diese nach den ganz eigenen Vorstellungen ihrer Protagonistinnen abläuft, macht die Revolution jedoch unkonventionell und weniger offensichtlich.

Aufruf zur Denunziation

Tatsache ist, dass eine junge Frau aus Annaba Ende Juni eine Facebook-Gruppe gegründet hat, in der sich Frauen aus der Umgebung am Strand verabreden. Die Gründerin nennt sich in dem einzigen Interview, das sie der Zeitung "Le Provincial" gegeben hat, Sara. Ziel der Initiative sei es, dass sich Frauen auch im Badeanzug oder Bikini an den Strand trauen können, ohne mit unangebrachten Blicken, sexistischen Sprüchen oder anderen Belästigungen rechnen zu müssen. Gegenüber "Le Provincial" sagte Sara, dass Frauen oft Schikanen ausgesetzt wären, wenn sie im Badeanzug oder Bikini an den Strand gingen, obwohl das gesetzlich nicht verboten ist. Ein Schlüsselerlebnis war für Sara eine Aktion von Ultrakonservativen, die zur Denunziation von Frauen in westlicher Bademode aufgerufen hätten. Wer eine Frau am Strand sieht, deren Kleidung gegen islamische oder algerische Werte verstoße, solle sie fotografieren und das Foto auf den sozialen Netzwerken veröffentlichen.

Gesellschaft der Widersprüche

"Seit den 1980ern verhüllen sich Frauen in Algerien wieder verstärkt", erklärt Sihame Aziz, Vizepräsidentin der Österreichisch-Algerischen Gesellschaft. Auch politisch gewannen konservative Kräfte Aufwind, die in dem Verbot der "Islamischen Heilsfront" 1992 und dem darauffolgenden Bürgerkrieg mit mehr als 200.000 Toten gipfelte. Heute sei die algerische Gesellschaft zwar nicht gespalten, befindet Aziz im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", jedoch eine der Widersprüche - wie auch die nunmehrige Debatte um freizügige Badekleidung zeigt.

Mehr als 3000 Personen gehören mittlerweile der Facebook-Gruppe an, die sich für Bikini und Badeanzug am Strand starkmacht. Seit Anfang Juli organisieren sie mindestens ein Treffen pro Woche am Strand. In der europäischen Presse und in den sozialen Netzwerken, vor allem Twitter, wurde die Initiative als eine Revolution der Frauen gegen den Islamismus im Maghreb gefeiert.

Die Solidaritätsbekundungen rissen nicht ab, als die französische Wochenzeitung "Marianne" Anfang August von einem anstehenden Großereignis am 7. August bei Bejaja, einem "republikanischem Bad", berichtete. Nur: Dieses fand nie statt. "Wir haben am 7. August Journalisten zum Strand geschickt, aber da war nichts zu sehen", sagte Kamel Mansari, Chefredakteur der algerischen Tageszeitung "Le Jeune Indépendant" der "Wiener Zeitung". Der Ton auf Twitter schlug sofort um, Nutzer machten sich über Möchtegernaktivistinnen lustig, die dachten, sie könnten die Welt verändern, indem sie im August zusammen an den Strand gehen. "Marianne" und die anderen Zeitungen wurden der Verbreitung von Fake News beschuldigt.

Klarheit brachte schließlich ein Interview, das "Marianne" mit einer jungen Algerierin namens Selma führte. Hier schienen das Bemühen einer Zeitschrift, ihren Ruf zu retten, und jenes einer jungen Frau, die sich und ihre Mitstreiterinnen ins rechte Licht rücken wollte, Hand in Hand zu gehen. Selma bestätigte die Echtheit der Facebook-Gruppe und dass in den vergangenen Wochen Treffen stattgefunden hätten. Ohne Vorankündigung, Proteste, Plakate, Sprechchöre oder Medienpräsenz. Sie selbst sei bei vier der Treffen dabei gewesen. Denn die Frauen von Annaba hätten ihren ganz eigenen Weg des Widerstands gewählt, und sie sind entschlossen, ihn weiterzugehen. Sie werden ihre Initiative weder uminterpretieren noch deren Wichtigkeit untergraben lassen. Selma erinnert an die Worte der Gruppengründerin in "Le Provincial": "Es ist nicht unser Ziel, Aufsehen zu erregen, sondern die Gesellschaft sanft und tiefgründig zu verändern. Das ist nur möglich, indem wir Menschen an etwas gewöhnen, was für sie als unerhört gilt. Wir wollen nicht ihre Auffassungen verändern, aber ihnen Toleranz und die Akzeptanz beibringen." Es handle sich um eine lokale Initiative mit einem konkreten Ziel statt um einen großangelegten ideologischen Kampf.

Die Graswurzelelemente der Initiative sind wohl auch die Erklärung dafür, dass sich die algerische Mainstream-Presse nicht für die Geschichte interessiert. Nach dem sogenannten republikanischem Bad gefragt, erklärte Selma: "Ich weiß nicht, wer dieses republikanische Bad organisiert hat, aber ich denke, dass jemand einfach Staub aufwirbeln wollte. Unsere Gruppe hat damit nichts zu tun." Der "Observ’Algérie" berichtete später, ein Jugendlicher habe aus Jux das Gerücht von einem republikanischen Bad ins Netz gesetzt. Selma betont außerdem, dass es vollkommen unrealistisch sei, dass sich alle rund dreitausend Gruppenmitglieder zugleich versammeln würden, was im Übrigen von der Gruppe selbst nie behauptet worden wäre.

"Wo sind eure Väter?"

An der Notwendigkeit ihrer Initiative zweifelt Selma keine Sekunde, solange es noch Frauen gäbe, die sich zweimal überlegen, was sie am Strand anziehen sollen. Oder solange nach einem Treffen der Gruppe Kommentare wie "Nacktheit solle man Tieren überlassen" oder Fragen wie "Wo sind eure Väter?" in den sozialen Netzwerken kursierten. Auch wenn Kamel Mansari die Hinweise auf strukturellen Sexismus entschieden zurückweist und beteuert: "Algerien ist ein modernes Land, Strände werden sehr gut und aufwendig überwacht. Außerdem werden Frauen von unseren Gesetzen ausgesprochen geschützt. Aber all das passt nicht in das Bild, dass viele im Ausland von Algerien haben." Auf die Beschreibungen der Frauen von inopportunen Blicken bis zu sexueller Belästigung angesprochen, erwiderte er, dass das nicht an der Mentalität der Algerier läge, sondern an der schlechten Erziehung Einzelner.