Zum Hauptinhalt springen

"Wir müssen lernen, global zu denken"

Von Markus Schauta

Politik

Der IS verliert an Territorium. Dennoch bleibt die global agierende Terrororganisation handlungsfähig.


"Wiener Zeitung": Mossul steht unter Kontrolle der irakischen Streitkräfte, in Rakka verlieren die Dschihadisten immer mehr an Boden. Zerbricht das Kalifat?

Rüdiger Lohlker: Ich würde nicht von "zerbrechen", sondern lieber von "transformieren" sprechen. "Zerbrechen" erzeugt die Vorstellung, dass es dann vorbei ist. Statt dessen können wir seit längerer Zeit beobachten, dass sich der Islamsche Staat - IS - verlagert. Bevor Abu Omar al-Schischani (Anm.: Mitglied des obersten Führungszirkels des IS) letztes Jahr getötet wurde, verbreiteten IS-Kanäle, dieser Omar gebe den Brüdern in Libyen taktische und operationelle Ratschläge. Das war ein klares Signal, dass versucht wird, eine andere Basis aufzubauen. Ich vermute, der IS wird neben Libyen weitere Basen oder Rückzugsgebiete schaffen. Vergleichen wir es mit Al-Kaida, auf die immer so gerne vergessen wird: Als sie im afghanisch-pakistanischen Gebiet als geschlagen angesehen wurden, haben sie sich weiter nach Afghanistan verlagert, eine "Filiale" im Jemen aufgemacht und Verbindungen zu Somalia hergestellt. Diese Bewegungen agieren global. Um sie zu verstehen, müssen wir lernen, global zu denken. Daher würde ich sagen, dieser übertriebene Optimismus sollte einem Realismus weichen. Der IS ist fähig, in den Untergrund zu gehen. Und sie tun es jetzt schon. Es deuten alle Informationen darauf hin.

Mit dem Verlust des Territoriums brechen dem IS auch Einnahmequellen weg. Welche Finanziers bleiben ihm im Irak und in Syrien?

Terroristische Bewegungen wie der IS sind auf die Unterstützung durch lokale Communities angewiesen. Ob dies geschieht, ist vom Gewinn abhängig, den Drogenhändler, Waffenhändler oder andere Geschäftstreibende sich erhoffen können: Lohnt es sich, dass ich mich auf deren Seite schlage, oder muss ich mir jemand anderes suchen? Im Moment scheinen Al-Kaida-nahe Organisationen in Syrien eine viel wichtigere Adresse zu sein als der IS. Ich nehme an, ein Rest-Investment in den IS wird weiterhin existieren. Aber die Hauptaktivitäten werden sich auf andere Akteure im Bürgerkrieg verlagern. Das können im Irak Al-Haschd asch-Schabi sein oder andere Kräfte aus der Regierungsarmee. Dennoch sind die Nachrichten über den Tod des IS verfrüht. Verglichen mit dem Geld, das die Anti-IS-Allianz pro Tag ausgibt, lässt sich eine Untergrundbewegung, zu der hin sich der IS im Irak und Syrien entwickelt, mit relativ geringen Mitteln aufrechterhalten.

Wie reagiert der IS im Netz auf die drohende militärische Niederlage?

Ich war irritiert, wie viele operationelle Materialien und Anleitungen zum Kampf online gestellt werden: Wie benutzte ich welche Waffen zu welchem Zweck? Welche taktischen Maßnahmen sind sinnvoll? Wie führe ich eine Operation durch? Wie rekrutiere ich? Wer kann ein Kader sein? Da werden Informationen aufbereitet, um einen Kampf auch ohne die Zentrale zu führen. Eine Vorbereitung auf die Situation nach dem Kalifat. Das sollte man nicht unterschätzen.

Weltweit haben sich zahlreiche lokale Milizen dem IS angeschlossen. Inwieweit spielt dabei die Religion eine Rolle, oder stehen viel mehr profane Anreize wie finanzielle Unterstützung, Waffen und Prestige im Vordergrund?

Ich würde das Religiöse nicht unterschätzen, aber diese Dinge spielen natürlich eine Rolle. Der Loyalitätseid an Al-Baghdadi ermöglicht diesen Gruppen den Anschluss an eine globale Bewegung. Das ist ein gutes Investment. Jedenfalls war es das, als der IS noch scheinbar am aufsteigenden Ast war. Es war ein Propagandagewinn, vielleicht auch manchmal ein bisschen ein Gewinn an Selbstachtung: Da muss nur irgendein Haufen von 20 Leuten irgendwo in einem Eck der Welt dem Kalifen die Treue schwören und schon berichten die Medien. Eine bessere Propaganda können die gar nicht bekommen für so wenig Investment.

Wie muss man sich die Verbindungen zwischen lokalen Akteuren und der Führung des Kalifats vorstellen? Inwieweit sind koordinierte Aktionen möglich?

Es gibt Aktivitäten des IS, die zentral koordiniert sind. Und daneben gibt es etwas, das ich "Virtuelle Führerschaft" genannt habe. So kursierte nach den Attentaten in Brüssel ein Posting in den IS-Kanälen, das den Dolch eines Kämpfers vor einem deutschen Flughafen zeigte. Die Botschaft: Es wäre ganz gut, wenn ihr da etwas machen würdet. Es funktioniert daher teilweise im Vorgeben von Zielen, teilweise koordiniert. Für die Sicherheitsbehörden ist das oft schwierig zu erfassen, denn die neigen dazu, Befehlsketten zu identifizieren. Aber wenn ich weiß, Ziele in einem bestimmten Land sind genannt, dann greift eben irgendjemand zu einem Messer. Da braucht es keine große Beteiligung des IS auf Kommandoebene. Wir suchen immer nach einem Muster, wie der IS operiert. Das halte ich für falsch. Das ist vielmehr eine Kombination auf verschiedenen Ebenen von unterschiedlich zentralisierten Aktivitäten.

Die letzte Ausgabe des IS-Magazins "Rumiyah" trug den Titel "The Jihad in East Asia". Ist Südostasien Rückzugsort oder neues Aufmarschgebiet des IS nach dem Ende des Kalifats?

Ich würde eher Rückzugsort sagen. Wie wir in Marawi auf den Philippinen gesehen haben, ist es für den IS durchaus möglich, Orte unter Kontrolle zu bekommen. Es wird von Kämpfern berichtet, die vom Kalifat auf die Philippinen gegangen sind, um sich dort den Dschihadisten anzuschließen. Das ist nicht unwahrscheinlich. Seit den Kriegen in Afghanistan haben wir einen stetigen Wechsel von dschihadistischen Kadern von einem Land zum anderen. Die Besetzung Marawis ist ein recht deutliches Zeichen dafür. Es ist tatsächlich eine Art Rückzugsgebiet. Die Wahrscheinlichkeit für den IS, sich dort zu etablieren, ist gut. Er kann hohes theologisches und militärisches Kapital anbieten. Die Gegend ist sehr unübersichtlich und die Sicherheitsbehörden sind vielleicht etwas zu sehr mit der Jagd auf Drogenhändler beschäftigt, sodass sie woanders keine Kräfte mehr frei haben. Genauso in Indonesien. Mit dem Unterschied, dass die Sicherheitsbehörden in Indonesien sehr viel besser aufgestellt sind. Sie kennen und kontrollieren die Netzwerke und können häufig auch vorbeugend eingreifen. Dass dabei immer wieder kleine Teams durchrutschen ist klar. Das kann niemand zu Gänze kontrollieren.

In Südostasien gab es bereits vor dem Auftreten des IS extremistische Gruppen. Sind diese Konkurrenz oder Brückenkopf für den IS?

Teilweise sind es Konkurrenzorganisationen, die inhaltlich den militärischen Dschihad aber ebenso befürworten. Die "Front der Verteidiger des Islam" zum Beispiel ist eine gewaltbereite Gruppe in Indonesien, die aber nur lokal agiert. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum sogenannten Islamischen Staat.

Inwiefern?

Diese Gruppe hat im letzten Jahr große Demonstrationen gegen die Regierung mitorganisiert. Sie hat aber auch Minderheiten gewaltsam angegriffen. Es gibt eine Reihe solcher extremistischer Strömungen in Südostasien - ein gedankliches Milieu, das sich für dschihadistische Ideen ganz hervorragend eignet, um daran anzukoppeln. Das ist der Humus, auf dem die fauligen Blüten des Dschihadismus blühen. Genauso wie es im IS genug Gelehrte gegeben hat, die in Saudi-Arabien ihre Ausbildung genossen haben. Auch wenn die Tatsache manchen Leuten nicht gefällt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Rüdiger Lohlker (geb. 7. Juli 1959 in Emden) ist ein deutscher Islamwissenschafter und seit September 2003 Universitätsprofessor für Orientalistik an der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Lohlker ist weit über die Grenzen Österreichs als Experte für radikale und militante islamistische Bewegungen bekannt und forscht auch zum Thema Deradikalisierung.