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Santiago Maldonado bleibt verschwunden

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik

Der Fall eines verschollenen Demonstranten entwickelt sich mitten im argentinischen Wahlkampf zur Staatsaffäre - und zu einem unkalkulierbaren Brandbeschleuniger für indigene Proteste in der Region.


Buenos Aires. Jeden Morgen wiederholt sich das traurige Ritual: Am Gebäude des Ministeriums für Justiz und Menschenrechte, nur einen Steinwurf vom Präsidentenpalast entfernt, haben Unterstützer großflächige Kalenderblätter angebracht. Und an jedem Tag an dem Santiago Maldonado weiter verschwunden bleibt, kleben sie einen Sticker über das aktuelle Datum: "Donde esta Santiago Maldonado?", steht darauf in leuchtend roten Buchstaben zu lesen. Es ist die Frage, die vor den mit Spannung erwarteten Parlamentswahlen am Sonntag ganz Argentinien bewegt: "Wo ist Santiago Maldonado?"

Argentinien wählt am Wochenende rund die Hälfte seiner Abgeordneten (127 von 257) neu, sowie ein Drittel seines Senats (24 von 72). Und vor zwei Monaten hätte sich kaum wer träumen lassen, dass Maldonado den Wahlkampf bestimmen wird. Der bis dato völlig unbekannte Aussteiger ist seit dem 1. August spurlos verschwunden. Wenige Tage nach seinem 28. Geburtstag nahm der Tätowierer und Kunsthandwerker an einer Demonstration der Mapuche in der Provinz Chuput teil. Der Protest richtete sich unter anderem gegen die italienische Familie Benetton, die bereits vor zehn Jahren riesige Ländereien in dem südamerikanischen Land kaufte. Als Wertanlage und zur Viehzucht, heißt es aus Reihen der Besitzer. Die Mapuche, Ureinwohner die vor allem in Argentinien und Chile leben, fordern das Land zurück. Der Verkauf sei unrechtmäßig geschehen und über ihren Kopf hinweg erfolgt.

Lateinamerikas Ureinwohner haben auch mehr als 500 Jahre nach der Entdeckung der "Neuen Welt" in nahezu allen Regionen Amerikas kaum Mitspracherecht, wenn es um ihre Territorien geht. Maldonado, selbst kein Angehöriger der Mapuche, sondern aus einer bürgerlichen Familie aus der Provinz Buenos Aires, hat sich dem Protest angeschlossen. "Er hat sich immer als Anarchist definiert", sagt Bruder Sergio. Er habe die Rechte der indigenen Ureinwohner Argentiniens verteidigen wollen, sich aber nicht selbst politisch aktiv engagiert. "Er hat der Politik und den Politikern misstraut", sagt Sergio. Vor allem sei er kein Mitglied der militanten Mapuche-Bewegung RAM, denen die Behörden Attentate in Chile und Argentinien vorwerfen und deren Anhänger gegenüber Benetton eine klare Linie fahren: "Das ist indigenes Land", betonen sie in ihren Protestaktionen. In Chile kam es in den vergangenen Monaten zu Brandanschlägen auf Kirchen und Unternehmen. Kirche und Wirtschaft werfen die Mapuche vor, für die Verbrechen aus der Kolonialzeit verantwortlich zu sein.

Inzwischen ist der Argentinier mit Vollbart und voller Mähne zum Symbol der Suche geworden. Vor allem junge Argentinier solidarisieren sich mit Maldonado. Immer wieder kommt es in Buenos Aires zu großen Demonstrationen rund um die Plaza de Mayo, wo Argentiniens politischer Herzschlag besonders laut und sichtbar klopft. Ob er immer Volkes Stimmung widerspiegelt, steht auf einem anderen Blatt. Hier haben Unterstützer Häuserwände mit Graffitis besprüht. Auch am Gitter vor der Kathedrale von Buenos Aires, einst Heimat des heutigen Papst Franziskus, kleben Plakate mit der einen Frage: "Wo ist Santiago Maldonado?" Auf dem Absperrgitter vor dem Präsidentenpalast hat ein Sprayer sein Urteil schon gefällt: "Maldonado - Opfer des Staatsterrorismus."

Erinnerungen an die Diktatur

Was ist eigentlich am 1. August passiert? Die Polizei hatte die Pro-Mapuche-Demonstration gewaltsam aufgelöst. In den Wirren danach ist Maldonado verschwunden. Die Polizei wies alle Vorwürfe zurück, dass Beamte etwas mit dem Verschwinden zu tun haben könnten, doch Videoclips und widersprüchliche Aussagen lassen die Sicherheitskräfte in keinem guten Licht erscheinen. Auch dadurch ist der Fall zum Politikum geworden. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die dunkle Zeit der Militärdiktatur, als vor rund 40 Jahren tausende Menschen ermordet wurden oder verschwanden. Auch damals waren es Polizei und Armee, die eine tragende Rolle bei der brutalen Gewalt gegen die Opposition spielte.

Der Fall Maldonado reißt diese Wunden wieder auf. Im Herzen von Buenos Aires gibt es eine Gedenkstätte, die an die Opfer erinnert. Inzwischen haben Aktivisten dort ein Foto von Maldonado aufgehängt, obwohl dessen Schicksal bisher noch nicht geklärt ist. Denn es gibt auch eine andere Theorie: Die Mapuche hätten Maldonado irgendwo in Chile versteckt, um sein Verschwinden politisch zu instrumentalisieren, heißt es in entsprechenden Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Je nach politischer Weltanschauung picken sich die Argentinier derzeit die Version heraus, die ihnen am glaubwürdigsten erscheint oder die sie am liebsten glauben wollen.

Argentiniens Präsident Mauricio Macri hat die emotionale Wirkung des Falles auf sein Volk lange maßlos unterschätzt. Er zeigte sich zunächst desinteressiert, erst als zahlreiche NGOs ihn persönlich in die Verantwortung nahmen, erkannte Macri die Brisanz des Falles. Inzwischen hat er die Suche nach Maldonado intensivieren lassen. Sollte sich die nach den derzeitigen Indizien wahrscheinlichere Variante bestätigen, dass Maldonado ein Opfer von Polizeigewalt geworden wäre, wird das dem Ansehen Macris schaden.

Die nächsten Präsidentenwahlen finden zwar erst 2019 statt, die Causa strahlt aber auf die zur Wahl stehenden Parlamentarier von Macris konservativer Partei Cambiemos ab.

Kirchner rittert um Senatssitz

Umso wichtiger wäre eine rückhaltlose Aufklärung des Falles. Schon jetzt rückt eine Allianz von peronistischen Kräften um die ehemalige Präsidentin Christina Kirchner, die Argentinien zweimal vorgestanden ist, und für das politische Comeback diesmal einen Senatssitz anstrebt, und Nichtregierungsorganisationen, die traditionell vom Kirchner-Lager finanziell unterstützt werden, den aktuellen Präsidenten Macri in die Nähe einer Militärdiktatur.

Mit der Realität hat das allerdings nichts zu tun. Von venezolanischen Verhältnissen mit wild um sich schießenden Polizisten und regierungsnahen paramilitärischen Banden ist Argentinien weit entfernt. Umfragen zeigen, dass Cristina Kirchner nicht von dem Fall profitieren kann, obwohl sie versuchte, sich als Sprecherin der Bewegung zu inszenieren. Doch auch unter Kirchner wurden die Mapuche unterdrückt, ihre eigene Familie hat sich riesige Ländereien in Patagonien gesichert - Hotelanlagen inklusive. Weil die Umfragen schlecht stehen, zweifelt sie die Transparenz der Wahlen an. Trotzdem wird es wohl zu einem Sitz im Senat reichen, doch ihr bürgerlich-konservativer Nachfolger Macri darf auf eine Stärkung seiner Position hoffen. Die Argentinier trauen ihm offenbar zu, das heruntergewirtschaftete Land wieder auf Kurs zu bringen. Auch wenn ihm bisher keine wesentlichen Erfolge in der Armutsbekämpfung gelungen sind, die er selbst zum Gradmesser für eine Präsidentschaft erhob.

Die Suche nach Maldonado geht unterdessen weiter, sie ist eine Art Volksbewegung geworden, in die sich auch argentinische Fußball-Legenden wie Diego Maradona eingeschaltet haben. Und der Fall bringt vor allem den Kampf der indigenen Völker in der Region um die Wahrung ihrer Rechte in den Fokus.

In Argentinien und in Chile wächst die Wut der Ureinwohner auf die Regierungen. Und mit der Wut kommt die Radikalisierung. Brennende Kirchen in Chile sind da erst der Anfang. Der Fall Maldonado könnte unabhängig vom Ausgang der Wahlen am Sonntag zum Brandbeschleuniger für eine ganze Region werden.