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Die verlorenen Töchter

Von Petra Ramsauer

Politik

Nach dem Fall der Hochburgen des "Islamischen Staates" im Irak und in Syrien rückt die Frage in den Vordergrund, was mit den überlebenden ausländischen Familien der Kämpfer geschehen soll.


Erbil. Die 16-jährige Deutsche Linda W. wartet in einem Hochsicherheitsgefängnis in Iraks Hauptstadt Bagdad auf ihre Zukunft. Wahrscheinlich in Panik. Sie könnte zum Tode verurteilt werden, so der letzte Stand in diesem Drama um ein junges Mädchen, das aus Deutschland heimlich ausreiste, um im "Islamischen Staat" (IS) eine sehr obskure Version von "Glück" zu finden. Anzunehmen ist, dass im Hintergrund intensive Verhandlungen laufen, wie man mit dieser jungen Frau umzugehen hat.

Linda wurde im Juli bei der Schlacht um die Stadt Mossul gefangen genommen. Es heißt, das Mädchen, das einen tschetschenischen Kämpfer geheiratet hat, sei Teil der besonders gefürchteten Religionspolizei gewesen: Jene Miliz, die mit unfassbarer Brutalität darüber gewacht hat, dass sich die Frauen in diesem Terrorstaat an die menschunwürdigen Gesetze halten.

Fleisch aus unbedeckten Hautstellen gerissen

Kein Flecken Haut durfte zu sehen sein, wenn sie ihre Häuser verließen. Eine Augenzeugin berichtet, dass Foltergeräte, die Klammermaschinen ähneln, eingesetzt wurden: Sie rissen das Fleisch aus unbedeckten Hautstellen. Verwendet haben solche Instrumente Frauen, die andere Frauen erniedrigten. Bekannt wurden auch Fälle von Frauen, die ihren Ehemännern dabei geholfen haben, die Massenvergewaltigungen von entführten Jesidinnen zu "erleichtern". Und immer wieder erzählen Augenzeugen des grauenhaften Alltags im IS, dass es besonders die als "Dschihadisten-Bräute" verharmlosten europäischen Auswanderinnen waren, die in dem horrenden Unterdrückungssystem eine tragende Rolle spielten. "Frauen, die auswandert sind, waren zum Teil ideologische massiv indoktriniert", betont auch Elisabeth Pearson, eine Wissenschaftlerin, die am King‘s College in London forscht und im heurigen Sommer eine Studie zur Rolle der weiblichen IS-Anhängerinnen publizierte.

Tausende Frauen aus aller Welt reisten ab 2013 in den "Islamischen Staat" aus. Darunter waren wahrscheinlich bis zu 2000 Europäerinnen. Auch aus Österreich wanderten mindestens 60 Frauen aus oder versuchten es; etwa die beiden Teenager Samra und Sabina aus Wien im Frühling 2014. Angeblich sind die jungen Frauen nicht mehr am Leben, doch eine Bestätigung dieses Gerüchtes fehlt. Insgesamt gibt es zum Schicksal dieser Frauen und ihrer Kinder kaum klare Anhaltspunkte; vor allem nicht, wie man künftig mit ihnen umgehen soll, wie mit besonderer Dramatik der Fall von Linda W. illustriert.

Seit Monaten imrechtlichen Niemandsland

Wie verworren das Weltbild der IS-Anhängerinnen war, illustrieren die Funde auf einer Computerfestplatte einer jungen Frau aus Belgien, die nach deren Flucht aus der Hochburg des "IS" Rakka vor kurzem entdeckt und von US-Medien veröffentlicht wurden. Sie lud sich aus dem Internet eine Kopie des Filmes "Fluch der Karibik" herunter, Kochrezepte, Pornos, Predigten von IS-nahen Imamen. Erst Tage vor dem Fall dieser ehemaligen "IS-Hauptstadt"-Rakka veränderte sich ihr digitaler Fingerabdruck, wechselte von Zeitvertreib zu Panik. "Wie behandeln kurdische Milizen gefangene IS-Anhänger?": Diese Suchanfrage war ihre letzte Aktivität im Internet.

Eine Antwort wird mit jeder weiteren Hochburg, die fällt, dringender. Bekannt sind nur wenige Randdaten: In Syrien werden in dem von kurdischen Milizen gehaltenen Gebiet in einem Camp nahe der Stadt Kobane jene Frauen und Kinder von IS-Anhängern gefangen gehalten, denen bei der Rückeroberung der vormaligen IS-Territorien die Flucht gelungen ist. Hunderte Frauen sind hier gestrandet. Manche verharren hier seit ihrer Flucht oder Festnahme schon seit Monaten im rechtlichen Niemandsland.

Ähnlich ist die Lage im Irak. "Wir haben keine Vergleichsfälle aus der Vergangenheit, an denen man sich orientieren könnte: Das ist rechtlich völliges Neuland", sagt Becky Bakr-Abdullah im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Kurdenrepublik. Bakr-Abdullah kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit des Norwegian Refugee Council, einziger internationalen Hilfsorganisation, die in die Betreuung von IS-Familien eingebunden war.

Ende August tauchten 1400 Frauen und Kinder in dem Vertriebenenlager Hammam al-Alil, 30 Kilometer südlich von Mossul gelegen, auf, nachdem der IS die Stadt Tal Afar verloren hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der Norwegian Refugee Council bereits seit Monaten mit der Betreuung des Lagers beauftragt. "Plötzlich gab es diese Gruppe, die von den irakischen Behörden sichtlich abgeschottet wurde", erzählt Bakr-Abdullah. Unter den Frauen seien Afghaninnen, Tschetscheninnen, sehr viele Türkinnen, aber auch Französinnen und Deutsche gewesen. "Viele verfügten über keine Papiere mehr. Ihre Männer waren verschwunden."

Am 17. September jedoch erschienen zahlreiche Busse, und die vertriebenen IS-Familien wurden von der irakischen Armee abtransportiert - in ein nun völlig abgeriegeltes Lager nahe der Stadt Tel Kaif. Seither fehlt jede weitere Information über das Schicksal dieser Menschen. "Es muss unbedingt etwas getan werden", sagt Becky Bakr-Abdullah: "Besonders die Kinder und Jugendlichen sind extrem gefährdet. Sie alle sind nach internationalem Recht Zivilisten, die Schutz brauchen."

Kinder ohne Passund Geburtsurkunde

Doch angesichts der Spannungen nach dem Referendum zur Unabhängigkeit Kurdistans ist es umso schwieriger, Informationen zu erhalten und Lösungen zu finden: Just wo nun Kämpfe zwischen kurdischen Kämpfern und irakischen Sicherheitskräften aufflammen, dürften tausende IS-Familien gestrandet sein. Neben dem Lager in Tal Kaif dürfte noch mindestens ein Dutzend weiterer ähnlicher Auffanglager für IS-Angehörige, die wie Gefängnisse betrieben werden, bestehen.

Besonders problematisch ist dabei die Lage der Jüngsten: Nicht alle Kinder sind in Begleitung; viele wurden Waisen und verfügen weder über Pass noch über Geburtsurkunde oder sonst einen Hinweis auf ihre Herkunft. "Wir befürchten, dass viele Kinder von IS-Kämpfern einfach irgendwo landen, in einer höllischen Grauzone und sie nirgendwo Aufnahme finden", warnt Bill van Esveld, der sich bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch für Kinderrechte einsetzt.

Der irakische Premierminister Haider al-Abadi hat Mitte September angekündigt, dass man sich für die Repatriierung von Kindern und auch Frauen der IS-Kämpfer einsetzen werde, da den meisten "keine Kriegsverbrechen vorgeworfen werden".

Doch bis dato fehlen Angaben zu offiziellen Auslieferungen: Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass sich einige Regierungen von Herkunftsländern noch nicht dazu entschlossen haben, ihre Bürgerinnen zurückzunehmen. Alleine Frankreich geht davon aus, dass sich noch 700 Landsleute in Syrien und dem Irak aufhalten, die sich dem IS angeschlossen hatten. Ein Drittel davon sind Frauen. Dazu kämen aber laut offiziellen französischen Schätzungen 500 Kinder. Die Hälfte ist bereits im IS geboren. Die wenigsten EU-Staaten haben so klare Zahlen. Im jüngsten Experten-Bericht der Vereinten Nationen zur Lage im Kampf gegen die Terrorgefahr im "Islamischen Staat" wurde massiv bemängelt, dass der internationalen Gemeinschaft eine gemeinsame Strategie im Umgang mit den Rückkehren fehle. Vor allem gibt es keine Bereitschaft der Staaten, ihre Bürger freiwillig zurückzunehmen.

Australien will Integrationsplan vorlegen

Das hat viel damit zu tun, dass nicht nur möglicherweise nach wie vor radikalisierte Frauen, sondern auch Kinder und Jugendliche, die im Milieu des "Islamischen Staates" aufgewachsen sind, als hohes Sicherheitsrisiko gelten. So warnte erst vor wenigen Tagen der deutsche Verfassungsschutz vor der Gefahr, die von minderjährigen Rückkehrern ausgehe. In Australien - ein Land mit außergewöhnlich vielen Ausreisenden in den "Islamischen Staat" - will nun Justizminister Michael Keen einen detaillierten Integrationsplan für Kinder von Rückkehrern vorlegen.

Doch das ist der übernächste Schritt. Inmitten der sich zuspitzenden Krise im Nordirak und der unklaren Zukunft der kurdischen Gebiete im Bürgerkriegsland Syrien sind just jene Gebiete, in denen sich der Großteil der europäischen IS-Kämpfer und Kämpferinnen sowie deren Kinder befindet, kaum zugänglich.

"Ich möchte nur zurück, so schnell wie irgendwie möglich." Mit solchen Bitten meldeten sich Ex-Dschihadistinnen aus Frankreich und Großbritannien in den vergangenen Tagen zu Wort. Mütter von jungen tschetschenischen Frauen suchen nun öffentlich per Video-Aufrufen nach ihren Töchtern. Doch auch jene Teile des Propaganda-Apparats des "Islamischen Staate", die trotz des militärischen Fiaskos noch funktionieren, griffen zuletzt in die Debatte ein: "Unsere Dschihadistinnen werden den Kampf fortführen", heißt es online in einem Propaganda-Aufruf, der vor wenigen Tagen erschienen ist. Es war eine Hiobsbotschaft für jene Frauen, die darauf gehofft hatten, dass sie sich aus der Rolle als unschuldige Bräute aus dem Sog ihres Terrorstaates lösen könnten.

Petra Ramsauer

ist Journalistin und Autorin. Sie berichtet immer wieder aus den Krisenregionen des Nahen Ostens, die sie regelmäßig bereist. Zuletzt veröffentlichte die Trägerin des Concordia-Preises das Buch "Siegen heißt, den Tag überleben: Nahaufnahmen aus Syrien" (Verlag Kremayr & Scheriau).