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Pakt mit dem Teufel

Von Michael Schmölzer

Politik

Bei der Eroberung Rakkas ließen kurdische Angreifer starke IS-Kräfte entkommen. Mit gutem Grund.


Wien/Rakka/Aleppo. Auf den ersten Blick ist es starker Tobak, den Recherechen der britischen BBC zutage förderten: Demnach haben kurdische Kämpfer bei der Eroberung von Rakka, der heimlichen IS-Hauptstadt in Syrien, ein Abkommen geschlossen, das den freien Abzug der Terroristen in großer Zahl ermöglichte. Das kurdisch dominierte SDF-Bündnis gab Ende Oktober nur bekannt, dass man einigen wenigen IS-Kämpfern freies Geleit zugesichert habe, um die Kampfhandlungen abzukürzen. Das gelte aber nicht für Ausländer, bei denen die Gefahr bestehe, dass sie nach Europa zurückkehrten.

Laut BBC war alles ganz anders. Demnach zog der IS schwer gerüstet und in einem Lkw-Konvoi voll mit Waffen und Munition ab. Es seien auch nicht einige Dutzend IS-Kämpfer davongerollt, sondern 13 Busse, hunderte Pkw und fast 50 Lastwägen.

Die USA, die die Erstürmung Rakkas aus der Luft unterstützt haben, räumten mittlerweile ein, dass bis zu 300 IS-Kämpfer und 3500 Angehörige Rakka unbehelligt verlassen durften. Man sei zwar dagegen gewesen, so Washington, habe aber die Entscheidung denen überlassen, die am Boden gekämpft hätten - also in erster Linie den Kurden.

Was den Westen beunruhigt: Unter den Abziehenden sollen Franzosen, Türken, Tunesier und Ägypter gewesen sein. Angeblich haben es einige dieser IS-Kämpfer bis an die türkische Grenze geschafft und von dort ihren Weg in Richtung Westen fortgesetzt.

Keine Verbrüderung mit dem IS

Die Türkei, die seit Jahren Krieg gegen die kurdische PKK im eigenen Land führt, äußert nun massive Vorwürfe: Offensichtlich habe sich der IS hinterrücks mit jenen terroristischen Kurdeneinheiten, die Rakka erobert haben, zusammengetan.

Eine Verbrüderung zwischen dem Islamischen Staat und den Kurden hat es aber nicht gegeben. Und es hat ganz andere, handfeste Gründe, warum der IS in großer Zahl und Stärke freies Geleit erhielt.

Man erinnert sich an die Eroberung Ost-Aleppos durch die syrische Armee im vergangenen Dezember. Damals waren die bewaffneten Assad-Gegner, von russischen Kampfjets bombardiert, auf einige wenige Stadtviertel zusammengedrängt worden. Die Rebellen hielten schließlich nur noch 10 Prozent der Osthälfte Aleppos. Nach einer monatelangen Blockade war die Lage der Zivilisten verheerend. Hunger und Kälte setzten vor allem den Alten und Kindern zu, es gab keine Medikamente und vor allem kein Wasser mehr, viele starben.

Die Rebellen, darunter zahlreiche radikale Dschihadisten, saßen in der Falle. Sie wollten, wenn man ihnen keinen Ausweg geboten hätte, bis zuletzt kämpfen. Das hätte zahllose Opfer gefordert: Auf Seiten der Armee, die um jede Straße, jeden Häuserblock hätte ringen müssen. Und vor allem auf der Seite der Zivilbevölkerung, oft Angehörige der Kämpfer, die hilflos zwischen den Fronten eingekeilt waren.

Schließlich einigte man sich unter russischer Vermittlung darauf, dass die Rebellen - darunter auch radikale Dschihadisten - und deren Angehörige unbehelligt abziehen durften. Den Rebellen war die Mitnahme von leichten Waffen gestattet, schweres Gerät musste zurückgelassen werden. Das wurde angeblich genau überwacht.

Die Lage in Rakka war ähnlich. Monatelang bombardierte eine von den USA angeführte Koalition die IS-Hochburg. Tausende Zivilisten waren dort gefangen, mehr als 28.000 Raketen und Bomben sollen auf die Metropole niedergegangen sein. Der IS missbrauchte Zivilisten als menschliche Schutzschilde, die UNO sprach von einem "enormen Preis", den Unschuldige zu zahlen hätten. Ausgegangen wird von mindestens 1000 zivilen Toten.

Die mit Medikamenten gedopten IS-Kämpfer waren entschlossen, ihre geheiligte "Hauptstadt" bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Als das SDF-Bündnis im Juni in östliche Viertel der Stadt eindrang, geriet es massiv unter Beschuss. Der IS setzte Artillerie ein, offenbar auch bewaffnete Drohnen. Straßen und Plätze waren vermint, ein Vorwärtskommen mit erheblichen Verlusten verbunden. IS-Scharfschützen verschanzten sich auf den Dächern und hatten freies Schussfeld. Immer wieder gelang es dem IS, Gegenangriffe zu starten.

Zivilisten geschont

Im Sommer 2017 waren 200.000 Zivilisten aus Rakka geflohen, 160.000 befanden sich aber immer noch im Kampfgebiet. Hubschrauber nahmen IS-Stellungen mit "Hellfire"-Raketen unter Beschuss, US-Kampfjets warfen Bomben ab, um den Angreifern ein Vorrücken zu ermöglichen.

Die zivilen Opfer dürften groß gewesen sein. Knapp vor der kompletten Eroberung Rakkas waren immer noch einige tausend Zivilisten in der Stadt, darunter Angehörige der Dschihadisten und Kollaborateure. Auch der Blutzoll der kurdisch geführten Allianz war hoch, jede Straße musste langwierig erobert werden.

Um Zivilisten und das Leben der eigenen Soldaten zu schonen, ließen die Kurden die IS-Kämpfer abziehen, sobald diese die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkannt hatten. Nicht nach außen dringen sollte, dass die Dschihadisten immer noch eine große Schlagkraft hatten - gerade deshalb ließen die Eroberer sie ziehen. Offiziell hieß es knapp vor der Siegesmeldung, hunderte IS-Kämpfer hätten sich ergeben, nur noch ein kleines Grüppchen leiste noch Widerstand.

Damit wurde die Lösung des Problems weiter verschoben. Nun besteht die Gefahr, dass sich die Entkommenen sammeln und einen Guerilla-Krieg vom Zaun brechen. Mittlerweile hat der einstmals siegreiche IS in Syrien seine letzte Hochburg verloren. Es ist möglich, dass sich die Geschlagenen andere Kriegsschauplätze wie etwa Afghanistan suchen. Dass sie tatsächlich nach Europa kommen ist eine Option - aber wenig plausibel.