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Leben im Zeitalter der Wut

Von Thomas Seifert

Politik

Der indische Essayist Pankaj Mishra über Demagogen, die Zweischneidigkeit der Moderne und den Aufstieg Chinas.


Wien. Der sozialkritische indische Essayist und Schriftsteller Pankaj Mishra setzt sich in seinem jüngsten Buch "Age of Anger" mit der Geschichte der Wut auseinander. Gibt es eine Verbindung zwischen den Anarchisten des 19. und 20. Jahrhunderts und den Dschihadisten des IS? Woher kommt die populistisch-demagogische Welle von Donald Trump über den Brexit bis hin zum Siegeszug autoritärer Führungsfiguren quer über den Globus?

"Wiener Zeitung": Sie schreiben in Ihrem Buch "Das Zeitalter des Zorns" über den Islamischen Staat (IS). Der IS ist nun im Irak und Syrien besiegt. Welche Lehren lassen sich aus der Phase des Siegeszugs des IS in den Jahren von 2014 bis 2017 ziehen?Pankaj Mishra: In diesem Buch habe ich prognostiziert, dass der IS kein dauerhaftes Phänomen sein wird. Denn auf der destruktiven Energie des IS ließ sich nichts aufbauen. Im Westen hat man den Fehler gemacht, den IS mit dem Studium islamischer Theologie verstehen zu wollen. Doch das führt in die Irre. Denn um den militanten Islam zu verstehen, nützt das Studium des Koran recht wenig. Genauso wenig nützt es, den Hinduismus zu studieren, um militante Hindu-Nationalisten zu verstehen. Und das Lesen buddhistischer Texte hilft auch nicht beim Verständnis militanter buddhistischer Gruppen in Sri Lanka oder Burma/Myanmar. Die Kämpfer, die in Extremistengruppen aktiv sind, haben aber Gemeinsamkeiten: Es handelt sich dabei meist um junge Männer, die das Gefühl haben, ihre Potenziale nicht verwirklichen zu können, und bei denen sich die Zukunftshoffnungen auf Wohlstand und ein gutes Leben nicht erfüllen lassen. Es geht nicht um einen Kampf der Zivilisationen zwischen dem Islam und dem Westen. Das Problem ist vielmehr die Moderne selbst, die immer wieder problematische Phänomene hervorgebracht: Rechtsextreme Bewegungen, genozidäre Bewegungen, imperialistische Bewegungen, Terrorismus. Genauso wenig sollten wir überrascht sein, dass unsere Zeit jemanden wie Donald Trump hervorgebracht hat, der auf allen möglichen Prinzipien herumtrampelt und die Gründungsideale der USA verrät. Während der Rest der Welt im 20. Jahrhundert durch eine blutige und turbulente Phase gegangen ist, hatten die USA schlicht Glück. Sie hatten im 19. Jahrhundert durch Expansion ein riesiges Territorium erlangt, die beiden Weltkriege haben im 20. Jahrhundert alle anderen Mächte massiv geschwächt. Jetzt scheint sich diese Glücksepoche für die Vereinigten Staaten dem Ende zuzuneigen.

Welche Lehren lassen sich aus der Geschichte ziehen?Es ist sicherlich kein Zufall, dass Österreich-Ungarn und Deutschland vor über 100 Jahren in eine gewaltige Krise geschlittert sind. Industrialisierung und Urbanisierung haben damals Millionen von Menschen entwurzelt, die in der in Entstehung begriffenen modernen Gesellschaft erst ihren neuen Platz finden mussten. Unzählige Menschen haben durch die Maschinisierung und Automatisierung ihre traditionelle Arbeit verloren, sind in die Städte gezogen und haben sich dort verloren und einsam gefühlt. Sie waren leichte Beute für die Demagogen, die Sündenböcke für sie identifiziert haben: Juden und kosmopolitische Eliten. Die Demagogen haben einfach die Angst, Wut, und Sorgen der Menschen kanalisiert und in Richtung der Feindbilder und Sündenböcke gelenkt. Das ist das, was die Demagogen immer getan haben, und das machen sie heute noch genauso: Sie antworten auf strukturelle Probleme in der Ökonomie, auf die es keine einfache Antwort gibt, damit, dass sie sagen: "Seid wütend! Diese und jene sind schuld!"

Wien war in den späten 19 Jahrhundert das Silicon Valley dieser Tage, in einer Blütezeit für die Wissenschaft, Kunst, Kultur und Innovation. Berlin wiederum war in den "goldenen 20er Jahren" die Welthauptstadt des Hedonismus. Wie passt das mit dem damals aufkeimenden Rechtsradikalismus in Österreich und Deutschland zusammen?

Die Moderne war stets eine zweischneidige, janusköpfige Sache. Wir glauben ja instinktiv, dass das Faschismus und Rechtsradikalismus nicht mit künstlerischer und intellektueller Innovation zusammenpasst. Dabei vergisst man, dass der Faschismus selbst eine politische Innovation war - wenn auch eine teuflische. Man macht es sich viel zu leicht, wenn man das einfach als kollektive Geisteskrankheit erklärt. Der Faschismus hatte sehr klare Ideen darüber, wie man eine Gesellschaft organisieren soll. Dazu kommt das politische Versagen der Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Faschisten gaben eine Antwort auf das Gefühl der Machtlosigkeit, dass damals viele Menschen hatten. Der gesellschaftliche Wandlungsprozess war vielen damals zu schnell, die Gesellschaft zu komplex geworden. Auf dieses Gefühl sind Künstler wie Robert Musil, Gustav Klimt oder Egon Schiele auf ihre Weise eingegangen, sie waren fasziniert von dem Neuen, das da kam. Die politische extreme Rechte wiederum hatte ihre eigene Antwort darauf - das Resultat kennen wir.

Die Gegenwart ist ebenfalls gekennzeichnet von radikalem schnellen Wandel.

Absolut. Wir gehen heute durch eine Phase der technologischen Revolution, unser Gehirn, unser Verstand ist einem massiven Wandel unterzogen. Es scheint, als würde unser Gehirn unter dem Einfluss neuer Medien und des Internets neu verdrahtet, unser Bewusstsein wird neu konfiguriert - und zwar auf eine Art und Weise, wie wir noch kaum begriffen haben. Die Geschichte wiederholt sich nicht exakt, aber sie reimt sich.

Aber dieses Mal steht der Westen am Ende einer langen Phase des Wirtschaftswachstums.

Dieses Wachstum, wie wir es nach 1945 erlebt haben, kommt nicht mehr zurück. Es ist also ein unumkehrbarer Niedergang des Westens zu konstatieren.

Wie wird der Westen mit dieser Situation umgehen?

Vor genau dieser Frage stehen wir jetzt. Die Demokratische Linke hat darauf jedenfalls keine Antwort. Also bleibt die radikale Rechte und vielleicht auch eine radikale Linke.

Was wird aus dem westlichen Modell, vor allem angesichts des Aufstiegs Asiens?

Das chinesische Modell der Erlangung eines gewissen Grades von Wohlstand und der Entwicklung der Nation mit Flughäfen, Eisenbahnen und einem leistungsfähigen Straßennetz - bei gleichzeitiger massiver Industrialisierung - wurde ganz ohne Demokratie erreicht. Wir sollten aber nicht vergessen, dass diese Dinge auch in Europa ohne die Demokratie geschafft wurden. Demokratie ist in Europa auch ein junges, zartes Pflänzchen. Dass in China sehr vieles falsch läuft, brauche ich wohl nicht zu betonen: Auf politischer Ebene, was die Umwelt betrifft, was die soziale Lage vieler Menschen betrifft. Aber: China repräsentiert eine außergewöhnliche Herausforderung für das westliche Modell. Denn die westliche Identität baute auf einem Gefühl der Überlegenheit und Dominanz auf. Mit dem Aufstieg einer mächtigen asiatischen Macht ist damit Schluss. Die intellektuelle Herausforderung durch China ist also viel größer als die ökonomische Herausforderung.

Warum?

Auf ökonomische Ebene kann man viel leichter Partnerschaften schließen als auf politischer, diplomatischer ideologischer. Chinas Botschaft an den Westen: Wir haben unserem Aufstieg auf unsere Weise geschafft. Was im späten 18. Jahrhundert passiert ist, ist, dass sich die mächtigen Länder Asiens auch Afrikas den Mächten Europas und später den USA unterordnen mussten. Damit ist es vorbei. Das ist eine Revolution.

Zur Person

Pankaj Mishra

(geb. 1969 in Jhansi, Uttar Pradesh) ist indischer Essayist (unter anderem für die "New York Review of Books), Literaturkritiker und Schriftsteller. Er war auf Einladung des Bruno-Kreisky-Forums für internationalen Dialog in Wien.