Zum Hauptinhalt springen

Dunkle Wolken über Erdogan

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Der türkische Präsident profitierte lange vom Bau-Boom am Bosporus. Doch jetzt droht dem angeschlagenen Sektor eine Krise.


Nikosia. Ende Oktober trat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit einer erstaunlichen Botschaft an die Öffentlichkeit. Er klagte über die Baupolitik in Istanbul, die das Stadtbild verschandelt habe. "Wir haben Istanbul betrogen. Auch ich selbst bin dafür verantwortlich." Vor wenigen Tagen regte er ein Gesetz an, wonach kein Haus in der Türkei mehr höher als fünf Stockwerke werden dürfe. Wie ernst das gemeint ist, sei dahingestellt, denn die Bauwirtschaft, die Istanbul während der Regierungszeit von Erdogans islamisch-konservativer AKP mit hunderten Hochhäusern und einer Reihe sogenannter Mega-Projekte wie einer neuen Brücke über den Bosporus versah, wurde unter Erdogans Ägide zum wichtigsten Motor der türkischen Wirtschaft. Am westlichen Rand der Metropole entsteht gerade ein riesiger neuer Flughafen, daneben eine Satellitenstadt für eine Million Einwohner, und im ganzen Land werden neue Wohnblocks, Moscheen und Einkaufszentren errichtet.

Doch es mehren sich Stimmen, die ein Ende des Baubooms prognostizieren. Die Mega-Industrie könne vor einer Mega-Krise stehen, warnte Ali Agaoglu, der bekannteste Baulöwe der Türkei. Der Multimillionär und Erdogan-Freund sprach vor einer drohenden Pleitewelle im Bausektor, vor allem bei Immobilien. "Die Preise fallen, während die Land- und Baukosten steigen", sagte er. Die erzielbaren Mieten seien zu gering - es gebe eine "ernste Stagnation". "Um die Räder am Laufen zu halten, werden einige Unternehmen sich einen Finger, andere einen Arm abschneiden müssen." Seine Firma habe bei einem Bauentwicklungsprojekt in Istanbul bereits erhebliche Preisnachlässe gewähren müssen, sagte Agaoglu. Profit mache er nur noch, weil er die Grundstücke vor Jahrzehnten günstig erworben habe.

Auch andere Parameter geben Anlass zur Sorge. Während die Zahl der Firmenpleiten in der Türkei in den ersten zehn Monaten des Jahres laut Daten der Union der Kammern und Börsen (TOBB) allgemein um 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahr anstieg, waren es im Bausektor 121 Prozent. Wegen des Wertverlustes der Lira, der im letzten Jahr gegenüber dem Dollar rund 20 Prozent betrug, der zweistelligen Inflation von 13 Prozent und anhaltender politischer Spannungen rechnen Experten mit einer Fortsetzung des Negativtrends.

Problem mit Dollarkrediten

"Ich glaube zwar nicht, dass große Baukonzerne betroffen sind, aber kleine und mittlere Unternehmen haben ernste Probleme. Der Sektor ist deutlich überdehnt", sagt der Istanbuler Ökonom Emre Deliveli, früherer Kolumnist der Zeitung "Hürriyet".

Vor allem die rasante Geldentwertung und ihre Folgen machen Deliveli Sorgen. "Viele Unternehmen haben Dollarkredite aufgenommen, verdienen aber Lira und machen deshalb Verluste. Das führt zu Problemen bei der Bedienung der Kredite, wodurch auch die Banken Probleme bekommen. Das Risiko steigt, weil dieselben Banken auch die Kredite der Wohnungskäufer finanzieren." Hinzu kommen die exorbitanten Grundstückspreise vor allem in Istanbul, wo sie bis zu 50 Prozent der Gesamtkosten ausmachen können. Die Investitionen waren lukrativ, solange die Verkaufspreise jährlich um 30 Prozent stiegen, während die Inflation rund 8 Prozent betrug. Zudem waren die Hypothekenzinsen niedrig, weshalb aggressives Marketing auch Durchschnittsverdiener aus der Mittelschicht zum Kauf von Zweitwohnungen verlocken konnte. "Jetzt steigen die Kosten,
während die Gewinne und die Nachfrage sinken", sagt Emre Deliveli.

Erfolgstrend kehrt sich um

Die Krise hat sich lange angedeutet. Schon der düstere Dokumentarfilm Ekümenopolis von 2011 über das ungeordnete Wachstum Istanbuls stellte fest, dass damals mehr als 700.000 Neubauwohnungen am Stadtrand leer standen und trotzdem weitergebaut wurde. Zwar habe eine weitgehend gleichbleibende Nachfrage das Entstehen einer Immobilienblase wie in den USA oder Spanien verhindert, erläutert Emre Deliveli. Doch inzwischen hat sich der Trend umgekehrt. Die Wohnungspreise haben sich laut den September-Zahlen der Zentralbank im laufenden Jahr nur um landesweit rund 11 Prozent (5,7 Prozent in Istanbul) erhöht und liegen damit jetzt deutlich unter der Inflationsrate. Für ein Apartment in Istanbul, das im letzten Jahr mit 500.000 Lira (167.000 Dollar) verkauft wurde, wären im September mit 529.000 Lira umgerechnet nur 153.000 Dollar zu erzielen gewesen, rechnete das exiltürkische Internet-Nachrichtenportal Ahvalnews aus. Die Frage ist, ob die Investoren überhaupt noch Gewinne machen oder bereits in die Verlustzone sinken.

Die Gesamtkosten im Wohnungsbau sind laut den Oktoberzahlen des türkischen Statistikinstituts im Vergleich zum Vorjahresmonat um 22,1 Prozent geklettert - doppelt so hoch wie die Wohnungspreise. Nicht nur Grundstückspreise und Arbeitslöhne, auch andere Baukosten haben sich deutlich erhöht, vor allem wegen des Wertverlustes der Lira. Türkische Firmen arbeiten mit einem Mix einheimischer und importierter Baustoffe und Maschinen. Je höher der Dollar steigt, desto teurer werden die Importe - und die Energiepreise in der rohstoffarmen Türkei. "Der Wohnungsbausektor scheint vor einer harten Zeit zu stehen", sagt Ökonom Deliveli, "und angesichts seiner zentralen Stellung hat jede Turbulenz im Sektor weitreichende Folgen für die gesamte Wirtschaft."

Ähnlich äußerte sich der Analyst Orhan Ökmen von der japanischen Kredit-Rating-Agentur JCR gegenüber der oppositionellen Zeitung "Cumhuriyet". Er warnte vor einer ernsten Liquiditätskrise und Pleiteserie im Bausektor, weil Banken sich zunehmend scheuten, Kredite auszureichen, zumal die Zinsen zu gering seien. Ausländische Investoren hätten zudem den Eindruck, dass der mehrfach verlängerte Ausnahmezustand mit seinen umstrittenen Praktiken permanent geworden sei, sagte er. "Der Ausnahmezustand führt dazu, dass ausländische Investoren das Land verlassen oder ihre Ankunft verzögern."

Zentralbank vor Entscheidung

Es sind vor allem die Bauunternehmer, die den Staatspräsidenten beschwören, für niedrigere Zinsen zu sorgen und damit ihre Kostenexplosion zu stoppen. Tatsächlich übt Erdogan permanent Druck auf die Zentralbank aus, die nun vor einem unlösbaren Dilemma steht. Sie müsste auf ihrer nächsten Sitzung am Donnerstag eigentlich den Leitzins deutlich anheben, um den Inflationsanstieg zu stoppen - aber wenn sie das tut, provoziert sie den mächtigen Präsidenten. Gleichwohl rechnen die Märkte derzeit mit einer fühlbaren Zinserhöhung. "Das ist der Grund, warum die Lira in den letzten Tagen wieder etwas Boden wettgemacht hat", sagt Ökonom Deliveli.