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Wo jeder Fehltritt tödlich endet

Von Gerhard Lechner und Michael Schmölzer

Politik

Donald Trump hat Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt. Damit riskiert er einen Flächenbrand im Nahen Osten.


Washington/Jerusalem. Es ist ein hochpolitischer Akt. Doch an sich klingt der Schritt von US-Präsident Donald Trump, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen, nicht sonderlich revolutionär. Israel betrachtet Jerusalem spätestens seit 1980, als die Knesset das "Jerusalemgesetz" verabschiedete, als "vollständige und vereinigte" Hauptstadt des Landes. Parlament, Regierung und Gerichtshof sind dort angesiedelt. Man empfängt seit Jahrzehnten Staatsgäste in Jerusalem, ohne damit allzu große internationale Verwicklungen auszulösen. Die US-Vertretung wäre auch nicht die erste Botschaft, die sich in der Heiligen Stadt angesiedelt hätte: In den 1950er Jahren hatten unter anderem Kenia, Bolivien, die Niederlande und Haiti Botschaften in Jerusalem eröffnet, ehe sie sich, die meisten nach der Annexion Ost-Jerusalems durch Israel im Jahr 1980, nach Tel Aviv zurückzogen. Und der US-Kongress selbst hatte bereits 1995, vor 22 Jahren also, beschlossen, die Botschaft vom jungen Tel Aviv am Mittelmeer in die altehrwürdige jüdische Hauptstadt zu verlegen.

Plangemäß hätte der Umzug 1999 abgeschlossen sein sollen. Er wurde nur aufgrund einer Klausel im entsprechenden Gesetz alle sechs Monate aufgeschoben. Ist es da nicht folgerichtig, wenn Trump den Ankündigungen jetzt Taten folgen lässt? Ist es nicht einfach eine realpolitische Maßnahme, eine Anerkennung der Tatsachen, wenn der US-Präsident sein Wahlversprechen umsetzt?

So einfach stehen die Dinge nicht. Nicht im Falle Jerusalems. Die altehrwürdige Stadt gilt als Zankapfel schlechthin zwischen Juden und Arabern. Allen drei monotheistischen Weltreligionen - Juden, Christen und Muslimen - gilt Jerusalem als besondere, als heilige Stadt. Schon früh kreuzten sich hier die Hochkulturen, neben den biblischen jüdischen Fürsten wie dem legendären König Salomon, auf den der Bau des ersten Tempels zurückgehen soll, hinterließen auch Ägypter, Babylonier, Römer und Araber ihre Spuren. Jerusalem ist mit Geschichte aufgeladen - und mit religiöser Bedeutung. Nach dem Glauben der Christen wurde Christus hier gekreuzigt und ist auferstanden. Die Grabeskirche erinnert daran. Den Juden gilt die Klagemauer, ein Überrest des von den Römern zerstörten antiken Zweiten Tempels, als heilig. Nur dort soll eine direkte Verbindung zu Gott möglich sein. Auf dem Tempelberg selbst ruht der muslimische Felsendom. Das ebenso imposante wie feingliedrige Bauwerk mit der goldenen Kuppel, das drittwichtigste islamische Heiligtum, erinnert daran, dass von hier aus der Prophet Mohammed in den Himmel geritten sein soll.

Die Erlebbarkeit religiöser und historischer Mythen in Jerusalem macht die Stadt für Touristen, auch für agnostisch eingestellte, ungemein faszinierend. Im Bereich der Politik ist es jedoch gerade diese Beladenheit mit Mythen, mit Wahrheitsansprüchen, die Jerusalem zu einem - Optimisten würden sagen: fast - unlösbaren Problemfall machen. Seit Beginn des Nahostkonflikts war die Stadt der zentrale Streitpunkt zwischen Israelis und Palästinensern. Sowohl jüdische als auch arabische Gruppen beanspruchten Jerusalem als Hauptstadt ihres jeweiligen Staates.

Der Teilungsvorschlag der Vereinten Nationen von 1947, der vorsah, auf dem Gebiet des heutigen Israel einen vorwiegend jüdischen und einen palästinensischen Staat zu schaffen und Jerusalem unter internationale Verwaltung zu stellen, wurde nie umgesetzt: Die arabischen Staaten betrachteten ihn als einen unzumutbaren Verzicht auf einen Teil des "Dar al-Islam", des islamischen Territoriums. Im bald folgenden Unabhängigkeitskrieg von 1948, der zur Staatsgründung Israels führte, und im Sechs-Tage-Krieg von 1967 trug das von mehreren arabischen Staaten angegriffene Israel den Sieg davon.

Ost-Jerusalem, der Stadtteil mit den Heiligen Stätten, ist seit 1967 unter israelischer Kontrolle - seither können Juden wieder an der Klagemauer beten. Den Tempelberg selbst mit dem Felsendom kontrollierten weiter die Muslime. Von Harmonie konnte aber nie eine Rede sein. Es ist ein Waffenstillstand auf Zeit.

Streit um Tempelberg

Angesichts dieser Konfliktgeschichte und der Tatsache, dass sich auf dem Tempelberg die Konflikte der abrahamitischen Weltreligionen Judentum und Islam auf wenigen Quadratmetern verdichten, kommt dem Tempelberg eine besondere Bedeutung zu. Ein Fehltritt am heiligen Ort kann Jahre der Krise heraufbeschwören. Wie etwa im Jahr 2000. Damals hatte der Likud-Politiker Ariel Scharon, noch als Oppositionsführer, demonstrativ den Tempelberg besucht - ein Schritt, der von palästinensischer Seite als nicht hinnehmbare Provokation angesehen wurde. Ein jahrelanger Aufstand, die zweite Intifada, brach aus. Mehr als 3000 Palästinenser und 1000 Israelis kamen während viereinhalb Jahren ums Leben. Im Herbst 2015 löste ein Streit um Nutzungs- und Besuchsrechte des Plateaus erneut eine Gewaltwelle aus, es gab tödliche Messerattacken auf Israelis. Gerade in letzter Zeit bekommen radikale Kräfte auf beiden Seiten Aufwind. Während im arabischen Lager Antisemitismus und Islamismus grassieren, gibt es auf israelischer Seite vereinzelt Initiativen, die den Bau eines dritten Tempels auf dem Gelände des Felsendomes befürworten.

Rare Stimmen der Vernunft

Doch noch gibt es sie, die Stimmen der Vernunft, die in Nahost zu Deeskalation und zur Versöhnung aufrufen. Sie sind zwar leise, aber vernehmbar, auch wenn die Ideen angesichts der politischen Entwicklungen hoffnungslos illusorisch klingen. So bemüht sich Israels berühmtester Schriftsteller Amos Oz mit Nachdruck um eine Verständigung. In seinem Buch "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", das ins Arabische übersetzt wurde, beschreibt er seine eigene Kindheit in Jerusalem zur Zeit der Gründung des Staates Israel. Oz ist der festen Überzeugung, dass Juden und Araber gar keine andere Wahl haben, als "als unglückliche Familie eine Form von Koexistenz zu finden". Als Vorbild sieht er die Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses nach dem Zweiten Weltkrieg. "Dass Deutschland und Frankreich, einstmals Erbfeinde, zu engen Partnern in Europa werden, hätte vor 70 Jahren niemand für möglich gehalten", gibt Oz die Hoffnung nicht auf. Vor zehn Jahren war er zu Gast bei "Literatur im Nebel" im niederösterreichischen Heidenreichstein. Es gelte, den Fanatismus zu bekämpfen , sagte Oz damals. Sollte irgendwo ein Lehrstuhl für Vergleichende Fanatismusforschung zur Ausschreibung kommen, würde er sich sofort für den Posten bewerben.

Sein Rezept damals: Humor. Denn Extremisten, die über sich selber lachen, seien ein Ding der Unmöglichkeit. Dass Trump mutwillig einen Nahost-Flächenbrand provoziert, dürfte auch Oz das Lachen schwer machen. Trotzdem kommen die Lösungsansätze des Autors für viele einer Befreiung gleich, sie klingen so ganz anders als das, was man Jahr und Tag aus dem offiziellen Israel zu hören bekommt: "Wenn die Menschen in Ramallah und Nablus im Westjordanland in Wohlstand und Freiheit leben, werden die Menschen in Gaza früher oder später das mit der Hamas machen, was die Bevölkerung Rumäniens mit Ceausescu gemacht hat", so eine typische Oz-Schlussfolgerung. Mit seinen Ansichten macht er sich nicht nur Freunde im eigenen Land, etwa wenn er radikale israelische Siedler "hebräische Neonazi-Gruppen" nennt.

Schüsse auf den Frieden

Der Autor wirkt wie ein Relikt längst vergangener Zeiten, dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass israelische Politiker mit Nachdruck an einer friedlichen Lösung arbeiteten und auch an ein Gelingen glaubten. Schimon Peres etwa, der 1994 zusammen mit Jassir Arafat und Jitzhak Rabin den Nobelpreis für seine Verdienste im Oslo-Friedensprozess bekommen hat. Er war bis zu seinem Tod im Vorjahr davon überzeugt, dass die Probleme mit den Palästinensern nur politisch und durch beiderseitiges Entgegenkommen gelöst werden könnten.

Dass erfolgreiche Schritte in Richtung Friedenslösung unternommen werden können, ist heute nicht einmal theoretisch vorstellbar. Die Zeiten, als US-Präsident Bill Clinton die Schirmherrschaft über Friedensgespräche zwischen der PLO und Israel innehatte, als das Oslo-Abkommen geschlossen wurde, sind weit weg. Aber immerhin: Der damals beschlossene Abzug der israelischen Armee aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen und die Palästinenser-Selbstverwaltung sind bis heute in Kraft.

Nach den Worten Jitzhak Rabins sollten mit dem Oslo-Abkommen "einhundert Jahre Blutvergießen für alle Zeiten beendet" werden. In seiner Rede bei der Unterzeichnung des Abkommens war von einem "Traum" die Rede. "Wir alle lieben dieselben Kinder, weinen dieselben Tränen, hassen dieselbe Feindschaft", meinte Rabin 1994. Im Folgejahr fand in Tel Aviv eine große Friedenskundgebung statt. Deren Motto war "Ja zu Frieden, Nein zur Gewalt". Ein rechtsextremer Israeli erschoss Rabin bei der Kundgebung. "Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen", hatte der Premier kurz vor den tödlichen Schüssen gesagt.

Dann geriet der Friedensprozess ins Stocken. Dass Premier Benjamin Netanjahu oder US-Präsident Trump bei einer Friedenskundgebung auftreten könnten, ist traurigerweise eine groteske Vorstellung. Netanjahu verfolgt die Politik des Einigelns und der kollektiven Feindabwehr. Für ihn sind Palästinenser wieder der große Feind von innen, der letztendlich zur Vernichtung Israels angetreten ist. Genauso wie der Iran, der große Feind von außen, der Israel mit Atomwaffen vernichten will. "Die Lehre aus dem Holocaust lautet: Wenn jemand ankündigt, dich vernichten zu wollen, glaub ihm", lautet Netanjahus Credo. Doch mit dieser Angst im Nacken ist eine Friedenslösung mit den Palästinensern nicht machbar.

Die Zeiten des großen Optimismus, als die Reggea-Band Alpha Blondy & The Wailers das Album "Jerusalem" aufnahm - die Texte wurden auf Hebräisch, Arabisch, Englisch und Französisch gesungen -, sind vorbei. Als sich im Jänner 2017 70 Länder und internationale Organisationen in Paris zu einer Nahost-Friedenskonferenz trafen, nannte Netanjahu die Veranstaltung "nutzlos". Das seien "letzte Zuckungen der Welt von gestern". Israel werde ein "internationales Diktat von Friedensbedingungen" niemals akzeptieren. Ein Gespräch mit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas lehnte Netanjahu ab, der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman sprach wörtlich von einem "Tribunal gegen den Staat Israel". Die Gewaltspirale in Nahost dreht sich daraufhin weiter.

Kleinprojekte als leise Hoffnung

Die, die im Nahen Osten für den Frieden arbeiten, tun das heute kaum noch auf politischer Ebene, sondern in Form von Kleinprojekten. So werden direkt neben dem Jerusalemer Zionsberg arabisch-jüdische Backgammon-Turniere veranstaltet. Es gibt zahlreiche NGOs, die sich um Frieden bemühen. Etwa "Breaking the Silence", wo israelische Soldaten eine Plattform für Berichte über systematische Übergriffe der Armee gegen Palästinenser in den besetzten Gebieten vorfinden. Dann gibt es die Initiative "Kids Creating Peace", die Jugendliche aus Israel und den Palästinensergebieten zusammenbringt, und das jede Woche über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren. Dazu kommen zahllose andere palästinensisch-israelische Projekte, etwa im Tourismusbereich. Das ist nicht viel, sorgt aber in Tagen wie diesen dafür, dass die Hoffnung nicht völlig stirbt.