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Nach dem Sieg ist vor dem Krieg

Von Petra Ramsauer

Politik

Der IS ist nicht geschlagen, sondern hat sich neu formiert. In Syrien und dem Irak könnte sich die Terror-Geschichte wiederholen.


Bagdad/Damaskus. Eine weiße Flagge, ein Löwenkopf als Wappenzeichen: Truppen mit diesen Insignien verüben seit Wochen Angriffe im Zentral-Irak. Noch ist ihre militärische Kapazität gering, doch ihr Potenzial immens. Denn diese Angriffe werden als Indiz gewertet, dass sich im Irak derzeit eine neue Dschihadisten-Miliz formiert, die anscheinend blitzschnell das Erbe der Terrormiliz "Islamischer Staat" antritt.

"Wir können das bestätigen", sagt General Hajar Ismail im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Uns liegen Informationen vor, dass sich extremistische Splittergruppen, die sich nach 2014 der Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ angeschlossen haben, sich nun neu im Zentralirak formieren und faktisch täglich an Stärke gewinnen."

Hajar Ismail, der als Medien-Sprecher der Peschmerga, der irakisch-kurdischen militärischen Einheiten fungiert, berichtet, dass es bereits vereinzelt sehr ernst zunehmende Angriffe durch diese neuen Dschihadisten gegeben habe. Verwundert sei er nicht, betont er, dass nur wenige Wochen, nachdem Iraks Premierminister Haidar al-Abadi das Ende des Krieges gegen die Terrormiliz verkündet hatte, eine Nachfolgegruppe schon in den Startlöchern stehe. "Es gibt keine Stabilität in dieser Region des Iraks. Je dominanter und brutaler schiitische Milizen im Auftrag der irakischen Zentralregierung in diesem von Sunniten bewohnten Teil des Iraks in Erscheinung treten, desto mehr an Zulauf gewinnen solche extremistischen Gruppen, die sich als Widerstand der sunnitischen Bevölkerung inszenieren."

Blitz-Comeback der Dschihadisten

Aus der Distanz betrachtet, ist das Bild der Extremisten-Szene im Irak deutlich einheitlicher als in der Nahaufnahme. Um die Pole der "Al-Kaida im Irak", die ab 2003 aktiv war und eine sukzessive Metamorphose über "Islamischer Staat Irak" bis zum "Islamischen Staat" vollzog, kreisten immer auch kleinere Gruppen, die mehr oder weniger direkt mit den Dschihadisten kooperierten. Dazu zählte etwa die Gruppe "Ansar al-Sunna". Sie war bereits 2003 aktiv und hat sich schließlich in den Terrorverband des IS eingefügt: Nun dürfte sie sich in der Region zwischen Bagdad und den Kurden-Metropole Erbil neu aufstellen. Unter dem Banner von Löwen und der weißen Flagge, Insignien, die sie bereits seit 2003 identifizierte.

Doch nicht nur bislang relativ unbekannte Dschihadisten-Gruppen, auch die Reste der Terrormiliz "Islamischer Staat" geben seit einigen Tagen alarmierende Lebenszeichen von sich. In der Stadt Hawija, dreißig Kilometer von Kirkuk entfernt, an der Grenze zu Syrien, griff die Terrormiliz "IS" erneut an: Eigentlich galt Hawija im Oktober als offiziell "zurückerobert" - doch das ist trügerisch.

Aus dem Nichts tauchen seit wenigen Tagen "IS"-Terroristen auf und greifen Einheiten der irakischen Armee an: "Solche Attentate werden wir bis in die Stadt Kirkuk noch häufig sehen", befürchtet Hatem al-Taie, der Vorstand des Militärrates: "Wir entdecken immer mehr Schläfer-Zellen, die in der landwirtschaftlichen Region um die Stadt viele Verstecke gefunden haben."

Ein Grund, warum Dschihadisten nach ihrer Vertreibung aus den einst von ihnen kontrollierten Städten Mossul und dem syrischen Rakka so rasch an Boden gewinnen würden, sei, "dass die irakische Armee zu wenig einsatzbereite Soldaten hat", sagt al-Taie.

General Hajar Ismail von den kurdischen Peschmerga verweist darauf, dass seine Einheiten nicht nur einen Großteil des bewaffneten Kampfes gegen die IS-Milizen ab 2014 getragen hatten und nun ausgebremst würden. "Wir fungierten quasi auch als Bollwerk zwischen Sunniten und den von schiitischen Milizen dominierten Sicherheitskräften der irakischen Zentralregierung." Diese Rolle könnte man nun angesichts der Spannungen mit der irakischen Zentralregierung nicht mehr wahrnehmen. Und so drohe die Geschichte der Radikalisierung sich rasch zu wiederholen.

Der Bruch der Ordnung

Zirka ein Drittel der irakischen Bevölkerung sind Sunniten. Sie leben mehrheitlich im Zentralirak, Bagdad, in den Provinzen im Umland und im Norden bis Mossul. Zwei Drittel der Bevölkerung sind Schiiten, die seit 2003 in der Regierung dominieren. Dazu verlaufen im Irak auch ethnische Bruchlinien zwischen Arabern, der Mehrheit in dem Land, Kurden und Turkmenen.

An der strittigen Frage einer fairen Machtverteilung zwischen diesen vielen Gruppen zerbrach jede Ordnung nach dem Sturz Saddam Husseins.

2003 entstand die "Al-Kaida im Irak", die ab 2009 militärisch besiegt schien. Doch dies entpuppte sich als Irrtum: Der Führer der Gruppe Musab al-Zarqawi war tot, doch seinem Nachfolger, Abu Bakr al-Baghdadi, gelang es, in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Iraks, einen Schattenstaat aufzubauen: "Islamischer Staat im Irak" nannte sich die Gruppe bereits ab 2006.

In weiterer Folge schloss sie sich mit den syrischen Dschihadistengruppen zum "Islamischen Staat" zusammen. Der Blitzkrieg von 2014, als der IS in Syrien und dem Irak ein Gebiet in der Größe Großbritanniens eroberte, illustrierte dann auch, wie rasch sich die Dschihadisten regenerieren können und zu einem global wirksamen Magneten für Terroristen werden können, wenn der Nährboden ihrer Entstehung nicht ausgetrocknet wird.

Die Geschichte könnte sich nun flugs wiederholen. "Die Gruppe hat in der Vergangenheit gelernt, wie sie militärische Niederlagen überleben kann", so Hassan Hassan, Autor eines der umfassendsten Werke über die Terrormiliz: "Bevor sie den Staat gründeten, waren sie eine Widerstandsgruppe. Und diese Metamorphose in den eigentlichen Zustand ist längst im Gange."

Nächste Saat des Terrors

Kurz vor Weihnachten stellt US-Verteidigungsminister James Mattis in einem knappen Statement fest, dass der Krieg gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" eine Pause eingelegt hat, aber es aus seiner Sicht ein grober Fehler war, mit dem Jahresbeginn 2018 den Anfang vom Ende der Bedrohung durch diese Gruppe zu markieren. "Wir haben keine Lust darauf, jetzt wieder abzuziehen und in Ruhe darauf zu warten, dass ISIS Version 2.0 wieder auftaucht", sagt er. Wie er das verhindern wolle? Angesichts der enormen Bitterkeit, die der Krieg gegen den IS mit tausenden Toten hinterließ, und Städten, die zu Ruinen wurden, scheint die Saat für den weiteren Zulauf hin zu Extremisten längst gelegt. "George W. Bush hat uns die Al-Kaida gebracht, Barack Obama den ,Islamischen Staat‘. Und Donald Trump: Bringt uns der die Zombies?", sagte Ismail Kamel, eine der vielen irakischen Sunniten, die vor einer völlig zerstörten Existenz stehen: Privat, politisch und wirtschaftlich.

Er lebte in Mossul und wartet seit Juli, dem Kriegsende in der Stadt, darauf, dass der Wiederaufbau beginnt: "Doch nichts rührt sich. Um uns Sunniten kümmert sich kein Mensch. Wir sind nur Verschubmasse der Machtkämpfe von anderen."

Am Westufer des Tigris in Mossul, wo im ersten Halbjahr 2017 Haus für Haus gegen die Terrormiliz gekämpft wurde, ist derzeit über eine Strecke von drei Kilometern kein einziges Gebäude intakt. 3000 Tonnen Schutt liegen über der Stadt. Alleine, um dies zu entsorgen, werden Jahre vergehen. Und dabei ist dies nur ein Bruchteil der Aufräumarbeiten, die noch immer nicht begonnen haben.

Dreieinhalb Jahre hat es gedauert, um die Terrormiliz "Islamischer Staat" zu besiegen, die ab Juni 2014 die Hälfte des Territoriums Syriens und ein Drittel des Iraks besetzt hielt. Doch der Preis dieses Sieges lässt sich noch nicht beziffern. Und es ist völlig unklar, wer sich um die Rechnung kümmern wird.

Und selbst der Sieg gegen die Terrorgruppe ist noch nicht gänzlich geschafft: Zu 98 Prozent ist der IS aus den Territorien vertrieben, die von der Gruppe ab 2014 gehalten wurden. Von den bis zu 100.000 Kämpfern sind laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums nur noch 1000 übrig. Doch die letzten Meter in dieser Schlacht werden auch hier die längsten und härtesten werden. Frappierend ist die Ähnlichkeit mit dem Feldzug gegen Taliban und Al-Kaida in den Monaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2011. Auch damals gelang es, die Extremisten rasch in die Defensive zu drängen. Doch im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet formierte sich hartnäckiger Widerstand, der Afghanistan bis heute destabilisiert.

Syraq als das neue AfPak

Nun droht das Grenzgebiet zwischen dem Irak und Syrien zu einer ähnlichen Hochburg zu werden, wo sich die letzten Reste der Terrormiliz verschanzen, sich neu formieren. Vom irakischen Hawjia bis zu den syrischen Städten Mayadeen, Deir Ezzor bis hin zur Oase Palmyra halten sich hartnäckige Widerstandszellen der Gruppe. Laut US-Verteidigungsministerium sind es zwar nur noch 1000 Kämpfer, aber es dürfte sich um den harten Kern handeln.

Hinzu kommt, dass hier auch zahlreiche ausländische Kämpfer Unterschlupf gefunden haben. Darunter sind auch hochrangige Führungskader der Terrormiliz. Vor einem Monat gelang es syrisch-kurdischen Milizen, in dieser Grenzregion acht französische Dschihadisten festzunehmen: Darunter Thomas Barnouin, der als Mastermind der Angriffe in Paris im November 2015 gilt.

Besonders problematisch ist der syrische Teil dieses Grenzgebiets. Noch ist es eine Region ohne funktionierende Staatsgewalt. Ein Wettlauf um die Kontrolle jener Gebiete, die vom IS kontrolliert wurden, ist im Gange. Kurdische Milizen und schiitische paramilitärische Einheiten, die vom Iran kontrolliert quasi als Bodentruppen des Assad-Regimes fungieren, ringen um die Kontrolle. Eingepfercht zwischen diesen beiden Fronten ist die sunnitisch-arabische Bevölkerung in der Region: Sie könnten abermals IS-Terroristen unterstützen, da diese Gruppe als einzige vorgibt, ihr Interesse zu vertreten.

Ein weltweit agierendes Netz

"Es ist dringend notwendig, sehr rasch, die Wurzeln auszumerzen, die dazu geführt haben, warum in dieser Region Syriens die Dschihadisten so stark werden konnten", sagt Leila Mustafa, die eben gekürte Bürgermeisterin Rakkas, der Stadt, die einst vom IS kontrolliert wurde. Die erst 29-jährige Kurdin wurde von 200 Delegierten der völlig zerstörten Stadt gemeinsam mit einem Vertreter der arabischen Bevölkerung gewählt. "Es gab Teile der Bevölkerung der Stadt, die zum ,Islamischen Staat‘ übergelaufen sind: Aus finanziellem Kalkül, aber auch, weil das Gefühl bestand, diese sunnitische Gruppe sei der legitime Vertreter" (siehe Interview). Doch so wie in Mossul sei es auch in Rakka momentan nötig, der Bevölkerung die Basis einer tragfähigen Zukunft zu bieten. Ansonsten würde hier abermals der Grundstock für Extremismus gelegt.

Doch nicht nur Bastionen im Bürgerkriegsgebiet Syriens bieten den überlebenden IS-Kämpfern die Gelegenheit, sich neu zu formieren. Tausende konnte entkommen; dies zum Teil mit dem Wissen der US-Armee und den Truppen von Präsident Bashar al-Assad. Unter ihnen dürften sich auch zahlreiche ausländische Kämpfer befinden. Aus Europa dürften mindestens 5000 "Foreign Fighters" nach Syrien und dem Irak gereist sein. Wie viele überlebt haben, ist unklar. Aus Österreich stammten 296 Kämpfer, davon sind mit Sicherheit 45 getötet worden und 110 noch nicht zurückgekehrt.

Ihre mögliche Rückkehr sorgt bei Europas Sicherheitsbehörden zu Recht für erhöhte Alarmbereitschaft. Doch der Großteil der ausländischen IS-Terroristen scheint derzeit nicht zu versuchen, in ihre Heimatländer zu gelangen, sondern es zeigen sich erste Anzeichen eines Trends, dass sie eher in den weltweiten Filialen des "Islamischen Staates" in Deckung gehen. In mindestens zwölf Staaten konnte der IS seit 2014 Fuß fassen. Dieses Netzwerk gilt als besonders brisantes Erbe der Terrorgruppe.

Ehemalige Kämpfer aus Europa tauchten laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP im Dezember in Afghanistan auf. Hier konnte der IS massiv an Boden gewinnen, wie eine Serie von Attentaten zuletzt zeigte. Doch nicht nur am Hindukusch, weltweit tauchen die in Syrien und im Irak trainierten "Foreign Fighters" auf. Joanna Paraszuk, eine Forscherin, die sich mit Russisch sprechenden IS-Kämpfern beschäftigt, hat Beweise gefunden, dass IS-Mitglieder aus Tschetschenien nun Teil der IS-Bastionen auf der ägyptischen Halbinsel sind.

Auch in Teilen Libyens dürften ausländische Terroristen einen sicheren Hafen gefunden haben. In diesem heillos zerrütteten Lande schien es zwar 2016 gelungen, die Außenposten des IS um die Stadt Sirte und im Osten des Landes militärisch zu besiegen, doch auch hier wurden zuletzt wieder verstärkt Angriffe von IS-Milizen registriert.

Dies ist für Europa besonders besorgniserregend, denn bei mehreren IS-Terrorangriffen in Großbritannien, aber auch bei dem Attentat auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin im vergangenen Jahr führte die Spur zu IS-Zellen in Libyen. Denn dass die Infrastruktur des IS wenigstens virtuell noch intakt ist, zeigte sich auch während der vergangenen Wochen. Propaganda-Kanäle im Internet veröffentlichten zuletzt erneut Aufrufe zu weltweiten Terror-Angriffen: Wie viel Einfluss solche Aufrufe tatsächlich noch haben, ist schwer einzuschätzen. Ein möglicher Tod des Anführers der Gruppe Abu Bakr al-Bagdadi, der noch im syrisch-irakischen Grenzgebiet vermutet wird, könnte zeigen, wie viel an Mobilisierungskraft in den Dschihadisten noch steckt. Oder er könnte auch illustrieren, dass die alte Garde längst von einer neuen Gruppe abgelöst wurde und eine neue Führungsriege offiziell das Erbe des IS übernimmt.

Zur Autorin:

Petra Ramsauer ist Journalistin und Autorin. Sie berichtet immer wieder aus den Krisenregionen des Nahen Ostens, die sie regelmäßig bereist. Zuletzt veröffentlichte die Trägerin des Concordia-Preises das Buch "Siegen heißt, den Tag überleben: Nahaufnahmen aus Syrien" (Verlag Kremayr & Scheriau).