Zum Hauptinhalt springen

Schönes neues Grasland

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Seit Jahresbeginn ist der Besitz und Verkauf von Marihuana in Kalifornien nahezu vollständig legal.


Pasadena/Los Angeles. Er schaut ein bisschen verloren aus, aber der Eindruck täuscht. Wie jeden Nachmittag, an dem er Vorlesungen hat - im aktuellen Wintersemester jeden Tag außer Mittwoch -, sitzt Ezra C. am Rand der sogenannten Mirror Pools, einem Brunnenensemble, das den Campus des Pasadena City College zum Colorado Boulevard hin begrenzt.

Ein sehr amerikanischer Ort, an wenigen anderen fühlt man sich dem westlichen Ende des Kontinents näher als hier. Über der Straße weist ein Schild darauf hin, dass sich die Autofahrer auf dem letzten Abschnitt der alten Route 66 befinden, während sich an ihren Rändern klassische Fast-Food-Händler wie McDonald’s und Jack-in-the-Box mit vietnamesischen und chinesischen auffädeln. Jackie Robinson, der erste schwarze Profi-Baseballer, hat hier studiert, der Schauspieler Nick Nolte, Gitarrengott Eddie van Halen und die Science-Fiction-Schriftstellerin Octavia Butler.

Ezra hat für das Erbe der Institution wenig übrig. Seiner täglichen Routine entsprechend, hat sich der Student ein Tofu-Sandwich und einen Eistee gekauft und jetzt sitzt er da und wartet auf Kundschaft. Er hat den letzten Bissen noch nicht runter, als die erste erscheint. Eine junge Latina, die sich vor der Yoga-Klasse noch schnell für den Rest der Woche eindecken will. 35 Dollar für fünf Gramm, die Transaktion erfolgt fast wortlos. Das Geschäftsmodell des 20-jährigen Ezra ist einfach: Er macht das Angebot, die Kommilitonen bestimmen die Nachfrage. Das war bis Ende 2017 so und, glaubt man ihm, wird das auch in Zukunft so bleiben. "Klar sind die Leute über die Legalisierung erleichtert. Aber das heißt nicht, dass sie deswegen jetzt alle in die Weed-Shops rennen. Und davon abgesehen, dass ich viele Stammkunden habe, ist es dort teurer als bei mir."

Sessions fordert null Toleranz

Wenn das mal Justizminister Jeff Sessions hört. Der 71-jährige Ex-Senator von Alabama, seit seiner Entscheidung, sich aus der Untersuchung der Russland-Affäre herauszuhalten, bei Präsident Trump in Ungnade gefallen, gab dieser Tage eine folgenreiche Weisung aus. Nachdem Washington den Gebrauch und Verkauf von Marihuana nach wie vor unter Strafe stellt, forderte Sessions die Bundes-Staatsanwälte auf, diesbezüglich keine Gnade mehr walten zu lassen. Damit handelte er sich nicht nur einen Shitstorm auf Social Media ein, sondern verprellte sogar manche seiner eigenen Parteigänger. Allen voran Cory Gardner, den konservativen Gouverneur Colorados - seit 2014 der erste Bundesstaat, der den Verkauf der Droge legalisierte und dessen Landeskassa jetzt vor Steuereinnahmen nur so übersprudelt.

Auf wen die angesichts der Realitäten am Boden ungewöhnliche Maßnahme wirklich abzielt, ist indes klar: Jenen Bundesstaat, in dessen Süden Ezras Heimatstadt Pasadena liegt. Mit seinen 40 Millionen Einwohnern beherbergt Kalifornien nicht nur die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt, sondern auch die mit Abstand meisten Demokraten im Land. Im "Golden State" lag Hillary Clinton bei der Präsidentschaftswahl 2016 mehr als vier Millionen Stimmen vor Donald Trump.

Leute wie Ezra sind dementsprechend so etwas wie Sessions’ personifizierter Albtraum. Davon abgesehen, dass der junge Mann wählen geht, studiert er Wirtschaft und dealt - wie alte Schulfreunde, die ebenfalls aufs City College gehen, bestätigen ("Er ist definitiv professioneller geworden. Auf der High School war er lange sein eigener bester Kunde") - seit er 15 ist.

Ob Ezra angesichts seiner zahlreichen Stammkundschaft nicht daran gedacht hat, sein Geschäft jetzt zu legalisieren und einen eigenen "Weed Shop" zu eröffnen? "Nein. Zu viel Umstände, zu viel Papierkram. Außerdem heißt ein eigener Shop noch lange nicht, dass damit alle rechtlichen Probleme aus der Welt wären. Ich kenne Leute, die eine Lizenz zum Verkauf von Gras für medizinische Zwecke hatten, und die hätten sie manchmal schon fast zurückgegeben."

Von welcher Art von Problemen Ezra spricht, kann Harutyun K. quasi ein Lied singen. (Auch wenn es nicht, wie im Fall von Ezras Freund, damit endete, dass eines Morgens Beamte der Drug Enforcement Agency (DEA) die Tür seines Ladens eintraten, weil er zuvor eine nicht angemeldete Zweigstelle eröffnet hatte.) Seit sechs Jahren betreiben Harutyun und seine Frau in Silver Lake, einem der hippsten Viertel von Los Angeles, einen Laden, in dem sie bis Ende 2017 Marihuana auf Rezept verkauften. Alles, was man bis dahin brauchte, um ihr Kunde zu werden, war das Empfehlungsschreiben eines Arztes oder eine von den Bundesstaatsbehörden ausgegebene Karte, die einem die medizinische Notwendigkeit des Marihuana-Konsums attestierte.

Nachdem die Geschäfte der beiden armenisch-stämmigen Mittdreißiger lange prächtig liefen, traf es sie wie ein Schlag, dass ihnen ihre Hausbank Anfang letzten Jahres plötzlich von heute auf morgen alle Konten kündigte - ihre geschäftlichen und die privaten. Harutyun: "Die Begründung war, dass sie ihre Lizenz riskieren, wenn sie dabei mithelfen, fortwährend gegen geltende Bundesgesetze zu verstoßen. In Wirklichkeit wollte nur jemand ganz oben seinen Arsch absichern."

Wie er und seine Frau das Problem mittlerweile gelöst haben, will er auch auf mehrmalige Nachfrage nicht verraten. Nur so viel: "Gott sei Dank gibt es Alternativen zum Dollar."

In der Grauzone

Praktisch vollständige Legalisierung hin oder her - die rechtliche Grauzone, in der sich Leute wie Harutyun und seine Frau bis heute bewegen, ist nicht zu unterschätzen. Nachdem aus D.C. keinerlei Hilfe zu erwarten ist, hat etwa Los Angeles erste Schritte zur Gründung einer stadteigenen Hausbank unternommen, um den Weed-Entrepreneuren den Einstieg ins Geschäft zu erleichtern.

Dass sich Jeff Sessions’ Untergebene in der Justiz ausgerechnet hier seinem Diktat beugen werden, daran will in Kalifornien so niemand wirklich glauben. Schon allein der augenscheinlichen Doppelmoral wegen: Beriefen sich die Republikaner während der Amtszeit Barack Obamas verlässlich mit dem Verweis auf "States Rights" - dem Recht der Bundesstaaten auf weitgehende Selbstbestimmung -, wenn ihnen etwas nicht passte, pochen sie in der Marihuana-Legalisierungsfrage plötzlich auf die alleinige Autorität des Bundes. Die Tatsache, dass Sessions das Kraut ganz im Ernst für "ebenso gefährlich wie Heroin" hält, macht die Sache nur noch schlimmer.

Umsätze schnellen nach oben

Ganz davon abgesehen, dass es das wahre, massive Drogenproblem der USA verharmlost: Im Landesinneren verheeren das immer billiger werdende Heroin sowie Chrystal Meth und Kokain mittlerweile ganze Regionen. Das, während an den Küsten und in Bundesstaaten mit liberalen Drogengesetzen Goldrauschstimmung herrscht. Laut den auf die Marihuana-Industrie spezialisierten Marktforschern der Firma New Frontier Data werden die Umsätze, die 2016 bei 6,6 Milliarden Dollar im Jahr lagen, bis 2025 auf sage und schreibe 24 Milliarden steigen. Dabei handelt es sich um konservative Schätzungen, als es bisher neben Kalifornien und Colorado nur fünf andere Bundesstaaten gibt, die den Gebrauch von Marihuana de facto voll legalisiert haben (namentlich Alaska, Washington, Oregon, Nevada, Maine und Massachusetts; in rund 20 weiteren Bundesstaaten gibt es Marihuana derzeit nur auf Rezept).

Harutyun und seine Frau kennen diese Zahlen ebenso wie den südkalifornischen Markt, und mittelfristig wollen sie - anders als die Ezras dieser Welt, die lieber weiter lizenz- und steuerfrei vor sich hindealen wollen - expandieren.

Angedacht sind Filialen in den Städten San Diego und Riverside County. Das, obwohl sie in ihrem angestammten Geschäftslokal von der neuen, mit 1. Jänner in Kraft getretenen Freizügigkeit nach eigenen Angaben "wenig bis gar nichts merken. Klar kommen jetzt jeden Tag ein paar Neugierige mehr. Aber das sind fast alles Touristen oder frisch hierher Gezogene. Die sind einfach nur auf das Erlebnis neugierig, jede denkbare Sorte Gras einfach so kaufen zu können wie eine Packung Kaugummi. Aber für uns hat sich kaum etwas geändert. Wer in Kalifornien Gras rauchen wollte, hat das auch bisher schon getan. Und wenn einer jetzt damit anfängt, nur weil es jetzt legal ist - vielleicht braucht er dann überhaupt eine andere Droge."