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Brasilien vor der Zäsur

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

Ein Gericht entscheidet, ob Lula da Silva der Korruption schuldig ist. Der Fall spaltet das Land.


RiodeJaneiro. Seit Monaten warten die Brasilianer gespannt auf diesen Tag. Die einen, politisch rechts stehend, voller Vorfreude; die anderen, die Linken, voller Wut. Zahlreiche Demonstrationen sind bereits angemeldet, die Zeitungen berichten seit Wochen täglich, die Regierung erwägt, die Nationalgarde auf die Straße zu schicken, um für Ruhe zu sorgen. An diesem Mittwoch wird in der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre ein Bundesgericht über Ex-Präsident Inácio Lula da Silva urteilen. Es wird eine historische Entscheidung. So oder so. Die Richter müssen feststellen, ob eine erstinstanzliche Verurteilung Lulas zu neuneinhalb Jahren Haft wegen Korruption und Geldwäsche Bestand haben wird. Der Richter Sérgio Moro sah es im Juli als erwiesen an, dass Lula von der Baufirma OAS eine dreistöckige Maisonette-Wohnung erhielt, weil er dem Unternehmen im Gegenzug Aufträge beim halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras verschaffte. Lula bestreitet jedoch, Inhaber des Apartments zu sein, dessen Wert auf umgerechnet 600.000 Euro taxiert wird.

Tatsächlich konnte Moro dem Ex-Präsidenten den Besitz der Immobilie nicht nachweisen. Er gründete sein Urteil auf Indizien und Zeugenaussagen. Sollten die drei Bundesrichter das Urteil dennoch bestätigen, müsste Lula zwar nicht sofort ins Gefängnis, aber er wäre voraussichtlich von den brasilianischen Präsidentschaftswahlen im Oktober ausgeschlossen, zu denen er antreten will. So will es das Ficha Limpa-Gesetz - das Gesetz der Weißen Weste -, das Verurteilten die Bewerbung um politische Ämter verbietet. Vieles deutet darauf hin, dass es so kommen wird.

Das Bundesgericht hat den Fall Lula mit ungewöhnlicher Eile behandelt. Sonst lassen dieselben Richter sich oft jahrelang Zeit. Die Verurteilung Lulas wäre eine Zäsur für Brasilien. Erstens wäre mit Lula der in allen Umfragen einsam führende Kandidat von den Wahlen ausgeschlossen. Für Lulas Anhänger wäre dies der letzte Beweis dafür, dass es sich um einen politischen Prozess handelte, der von den konservativen Eliten des Landes angestrengt wurde, um die erneute Präsidentschaft ihres Idols zu verhindern.

Lula als Symbolfigur

Es gehe, so diese Lesart, darum, eine Politik zu vereiteln, welche erneut die Armen in den Mittelpunkt stelle und das feudale Gefüge Brasiliens verändere. Zweitens träfe es mit Lula nicht irgendeinen Politiker, sondern eine weltweite linke Ikone. Der 72-Jährige ist während seiner Präsidentschaft zwischen 2003 und 2010 zum Symbol geworden. Im Positiven wie Negativen. Die einen assoziieren mit Lula die wirtschaftlichen Boomjahre der vergangenen Dekade, als der Hunger besiegt wurde; als Millionen Brasilianer auch dank staatlicher Programme in die Mittelklasse aufstiegen; als dutzende Hochschulen geschaffen wurden und Brasilien internationale Mitsprache anmeldete. Es war die Zeit, als Barack Obama Lula als "beliebtesten Politiker der Welt" bezeichnete. Die anderen sehen in Lula hingegen den Chef einer Mafia mit Namen Arbeiterpartei (PT). Deren Ziel sei es, Brasilien auszuplündern und in eine sozialistische Diktatur nach venezolanischem Vorbild zu verwandeln. Dass man Lula endlich hinter Schloss und Riegel bringen müsse, hört man immer wieder aus der weißen Mittel- und Oberschicht. Verhandlungsspielraum zwischen diesen beiden Standpunkten gibt es kaum. Moderate Stimmen, die sagen, dass Lula den Rohstoffboom der Nullerjahre zwar mit guten Absichten genutzt, aber weder nachhaltige Strukturen geschaffen noch die ausufernde Korruption gestoppt habe, gehen im medialen Geplärre unter.

Trotz allem ist Lula fest entschlossen, sich noch einmal um die Präsidentschaft zu bewerben. Seit Monaten reist er durch Brasilien und gibt Kundgebungen. Er zeichnet dann das Bild eines unschuldig Verfolgten, gegen den eine Klassenjustiz am Werk sei: Die Eliten Brasiliens könnten es nicht ertragen, dass ein Metallarbeiter aus armem Hause noch einmal Staatschef werde. Den aktuellen Präsidenten, Michel Temer, beschuldigt Lula, den Ausverkauf des Landes und den Abbau von Arbeitnehmerrechten zu betreiben, ohne ein Mandat zu haben.

Keine weiße Weste

Temer kam nur durch die zweifelhafte Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff 2016 an die Macht und leitet ein Kabinett, in dem mehrere Minister unter Korruptionsverdacht stehen. Für den Fall einer Bestätigung des Urteils hat Lula angekündigt, alle rechtlichen Schritte auszuschöpfen, um doch noch antreten zu können. Tatsächlich ist nicht zu übersehen, dass die Justiz sich an Lula festgebissen hat. Der von der Rechten als Saubermann gefeierte Richter Sérgio Moro widmet ihm eine erstaunliche Energie während er andere Politiker, gegen die gravierendere Vorwürfe existieren, mit weitaus weniger Eifer verfolgt oder sogar ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen pflegt. Gleichzeitig ist auch klar, dass Lula kein Unschuldsengel ist. So schwach die Anklage im jetzigen Fall ist, so muss Lula als Präsident doch von den Korruptionsschemas um den Erdölkonzern Petrobras und die Baufirma Odebrecht gewusst haben. Die Frage, die sich viele stellen, lautet daher: Steht Lula wegen seiner außerordentlichen historischen Rolle über dem Gesetz? Die Antwort kann nur "Nein" sein. Und sie müsste selbstverständlich für alle gelten. Doch hier ist der Knackpunkt. Viele Brasilianer haben den Eindruck, dass konservative Politiker von der Justiz geschont werden, während man alles versucht, um Lula zu zerstören und sein politisches Vermächtnis zu diskreditieren. Sollte Lula tatsächlich von den Wahlen ausgeschlossen werden, stünde Brasiliens Linke ohne Kandidaten da. Die Arbeiterpartei hat keinen Plan, wie sie seinen Ausfall kompensieren soll. Weit und breit gibt es niemanden, der auch nur annähernd Lulas Charisma und Kommunikationstalent besitzt. Wieder einmal wird deutlich, wie schädlich die extreme Konzentration auf starke Persönlichkeiten in Lateinamerikas Präsidialsystemen ist. Das Rennen um die brasilianische Präsidentschaft hätte mit Lulas Ausscheiden einen ungewissen Ausgang. Der rechte Scharfmacher Jair Bolsonaro liegt derzeit in den Umfragen an zweiter Stelle.