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"Jede Minute war eine Qual"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik
"Die Sympathien gegenüber der Ukraine sind leider nicht größer geworden": Laut Igor Koslowski machen im Donbass viele Menschen Kiew für die Misere verantwortlich.
© Simone Brunner

Historiker Igor Koslowski wurde fast zwei Jahre von pro-russischen Separatisten gefangen gehalten. 2017 kam er frei.


"Wiener Zeitung": Herr Koslowski, fast zwei Jahre lang wurden Sie von den pro-russischen Separatisten gefangen gehalten. Wie waren die Umstände Ihrer Haft?Igor Koslowski: Den ersten Monat habe ich in einem Keller des Geheimdienstes verbracht. Dort war es unerträglich. Ein feuchter Keller, nur eine Mahlzeit pro Tag, kein Bett und keine Toilette. Bei den Verhören haben sie mir einen Sack über den Kopf gestülpt, mich geschlagen und eine Pistole an die Schläfe gehalten. Sie haben mir zwei Granaten in die Hand gegeben und behauptet, dass sie sie in meiner Wohnung gefunden hätten. Dann war ich fast ein Jahr in Untersuchungshaft, gemeinsam mit anderen politischen Gefangenen und enteigneten Geschäftsmännern. Das letzte halbe Jahr war ich dann in einer Strafkolonie, dort waren die Umstände etwas besser.

Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Alles Mögliche: Extremismus, Terrorismus, Spionage. Sie haben ein Jahr lang nach Beweisen gesucht, aber nichts gefunden. Also sind sie bei der Version mit den zwei Granaten geblieben (Koslowskij wurde beschuldigt, versucht zu haben, ein Lenin-Denkmal in Donezk in die Luft zu sprengen, Anm). Sie haben ganz offen zu mir gesagt, dass sie mich wegen meiner pro-ukrainischen Haltung einsperren, aus der ich ja nie einen Hehl gemacht habe. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte eine ganze Generation erzogen, die für die Ukraine und gegen die sogenannte "Donezker Volksrepublik" auf die Straße gegangen wäre. Auch viele meiner Studenten wurden eingesperrt.

Wie schätzen Sie die heutige Stimmung in Donezk ein?

Ganz unterschiedlich. Die russische Propaganda hat großen Einfluss. Viele Menschen bemühen sich, das Schlechte zu ignorieren. Einige hoffen tatsächlich noch immer auf einen Anschluss an Russland. Das ist natürlich eine völlig irregeleitete Ansicht. Der Großteil wartet aber einfach ab. Wir dürfen nicht vergessen, dass 2014 in Donezk zehntausende Menschen für die Ukraine auf die Straße gegangen sind. Die meisten von ihnen haben das Gebiet inzwischen verlassen, einige wenige sind dennoch geblieben. Für sie ist es besonders schwierig.

Es gibt immer wieder den Vorwurf, dass Kiew die Bürger, die auf den besetzten Gebieten leben, schon aufgegeben hätte.

Leider sind viele Gelegenheiten verpasst worden. Dennoch setzt sich der ukrainische Staat für die Gebiete ein. Das betrifft viele Maßnahmen, die außerhalb des Donbass aber kaum wahrgenommen werden. Aber es stimmt, je länger der Konflikt dauert, desto komplizierter wird es. Das Problem ist aber vielmehr, dass man nicht nur das Territorium zurückerobern muss, sondern auch die Seelen der Menschen. Wir müssen die persönlichen Kontakte und den Dialog der Zivilbevölkerung ausbauen.

Zuletzt hat Kiew mit der Blockade aber selbst nicht gerade dazu beigetragen, den Austausch zu fördern - eine Warenblockade zu den pro-russischen Separatisten ist seit einem Jahr in Kraft.

Die Blockade ist nicht effektiv. Eine Blockade funktioniert nur dann, wenn sie von allen Seiten eingehalten wird. Aber wenn es eine hunderte Kilometer lange Grenze mit Russland gibt, die die Ukraine nicht kontrolliert, dann ist das nur eine relative Blockade. Das entfremdet die Gebiete nur noch weiter von der Ukraine, und das ist sehr gefährlich. Die Menschen wenden sich von der Ukraine ab, weil sie sie für ihre Misere verantwortlich machen. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Menschen unverschuldet in diese Situation gekommen sind. Nur die wenigsten haben beim Referendum (zur staatlichen Eingeständigkeit der Volksrepubliken, Anm.) abgestimmt. Aber die Sympathien gegenüber der Ukraine sind leider auch nicht größer geworden.

Zugleich sehen die Menschen doch, dass auch unter den Separatisten das Leben nicht unbedingt besser geworden ist.

Natürlich. Aber der Mensch ist nun mal ein Wesen, das sich sehr gut anpassen kann. Aber ich möchte noch einmal unterstreichen: Es gibt auch pro-ukrainische Positionen in Donezk. Sie können das nur nicht offen zeigen, weil das System so totalitär ist.

In Kiew gibt es auch immer wieder radikale Stimmen, die sagen: Lassen wir den Donbass doch den Donbass sein.

Es gibt natürlich viele unterschiedliche Stimmen in der ukrainischen Öffentlichkeit, auch radikale. Haben die ein Recht, zu existieren? Natürlich! Das ist der Pluralismus, den wir aushalten müssen. Aber es ist wichtig, dass sich eine kritische Masse zu den europäischen Werten bekennt und den Dialog sucht.

Wie haben Sie die russische Kontrolle auf dem Territorium der sogenannten "DNR" (Donezker Volksrepublik) erlebt?

Es ist bekannt, dass alle Strukturen, die es dort gibt, direkt aus Moskau gesteuert werden. Es gibt Kuratoren für jedes Ministerium, jede Behörde, jede Struktur. Das wird ja gar nicht verheimlicht. Die Waffen, die Waren und das Geld - alles kommt aus Russland.

Der Krieg begann schon vor mittlerweile fast vier Jahren. Wie hat sich Donezk seither verändert?

Mit dem Krieg haben viele Menschen Donezk verlassen, inzwischen sind aber viele wieder zurückgekehrt, weil sie woanders nicht wirklich Fuß fassen konnten. Es ist nicht so, dass sie unbedingt hier leben wollen, aber in Donezk haben sie zumindest eine Wohnung. Viele pendeln zwischen den Gebieten hin und her. Die jungen Menschen reisen aus, nach Russland, oder in die Ukraine. Auch die meisten Intellektuellen haben Donezk verlassen. Dadurch ist das Stadtleben primitiver geworden, es gibt keine Bildungsveranstaltungen mehr, dazu kommt die abendliche Ausgangssperre.

Die Krankenschwester Halyna Hajewaja, die zugleich mit Ihnen befreit wurde, hat gefordert, dass es keinesfalls eine Amnestie für jene geben soll, die für die Separatisten gekämpft und getötet haben. Die Amnestie ist im Minsker Abkommen festgeschrieben. Wie stehen Sie dazu?

Das ist eine sehr schwierige Frage für die ukrainische Gesellschaft insgesamt. Ich denke, man muss hier genau unterscheiden: Es gibt Menschen, die wurden gezwungen, unter den neuen De-facto-Machthabern zu arbeiten. Für sie sollte es eine Amnestie geben. Aber es gibt natürlich auch jene, die getötet haben. Die ukrainische Gesellschaft ist in dieser Frage auch gespalten. Die einen sagen: Wenn wir einen Dialog wollen, dann ist eine Amnestie sehr wichtig! Die anderen, vor allem jene, die selbst Angehörige verloren haben, lehnen das kategorisch ab. Zugleich habe ich selbst persönlich viele Menschen kennengelernt, die auf eine Amnestie hoffen. Sie haben gekämpft, sind aber nicht gegen die Ukraine per se.

Wen meinen Sie konkret?

Ich war in einer Gefängniszelle mit Männern, die selbst in den ersten Tagen des Konflikts eine Waffe in die Hand genommen haben, um für den "Aufstand" gegen Kiew zu kämpfen. Viele von ihnen bereuen es heute, dass sie damals in den Kampf gezogen sind - ob aus schierer Abenteuerlust oder aus einer Ideologie heraus. Jetzt sind sie aber in eine Sackgasse geraten. Es gibt für sie keinen Weg mehr zurück, und sie sehen sich jetzt auch noch einer Säuberungswelle ausgesetzt. Selbst diejenigen, die nicht eingesperrt sind, haben keine andere Wahl, als auch weiterhin mit der Waffe in der Hand zu kämpfen.



Der Friedensprozess dauert schon seit Jahren und gilt als verfahren, es wird praktisch immer noch jeden Tag geschossen. Wie sieht Ihre Prognose aus?

Ich möchte natürlich, dass der Konflikt bald beigelegt wird. Vor uns liegt aber noch ein sehr langer Weg. Wir müssen alles dafür tun, damit die Menschen hier auf dem ukrainischen, freien Territorium besser leben als dort. Damit auch die letzten Zweifel ausgeräumt werden, wo das Leben besser ist. Jetzt ist es aber vorrangig, alle weiteren Gefangenen freizubekommen. Derzeit wird wieder ein neuer Gefangenenaustausch vorbereitet. Ich hoffe, dass dieser nicht wieder verschoben wird - dort in der Gefangenschaft ist jede Minute eine Qual. Stunden verwandeln sich in Tage.

Zur Person

Igor Koslowski

ist ein Historiker und Religionswissenschafter aus Donezk. Der 63-Jährige ist für seine pro-ukrainische Haltung bekannt und hat 2014 einen pro-ukrainischen Gebetsmarathon in Donezk mitorganisiert. Am 27. Jänner 2016 wurde er von den Separatisten festgenommen. Er ist einer der bekanntesten politischen Gefangenen, die beim Austausch Ende Dezember 2017 freigekommen sind.

Wissen

In der Ukraine haben sich 2014 nach dem Sturz des moskaufreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowitsch Aufständische in den Gebieten Donezk und Luhansk (der Donbass-Region) von Kiew losgesagt - mit Unterstützung aus Moskau. In dem seither andauernden Krieg wurden UN-Angaben zufolge mehr als 10 000 Menschen getötet. Versuche, eine dauerhafte Waffenruhe zu erreichen, scheiterten bisher. Moskau, Kiew sowie Berlin und Paris haben 2015 den Minsker Plan ausgehandelt. Er sieht Entmilitarisierung und Autonomie vor.

Bei dem Gefangenenaustausch im Dezember 2017 wurden 306 Gefangene ausgetauscht - 73 wurden von den prorussischen Rebellen freigelassen, 233 von ukrainischer Seite. Ursprünglich sollten 380 Gefangene ausgetauscht werden. Doch dutzende von Kiews Gefangenen wollten nicht zu den Rebellen zurück, andererseits entschieden ein Mann sowie eine Frau, auf der Rebellenseite zu bleiben.