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Alte Mächte, junge Ohnmacht

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Donald Trumps Wahl zum Präsidenten hat in den USA bei der jungen Generation zu einem Politisierungsschub geführt.


Los Angeles/Washington. Über Nacht berühmt werden, davon träumen Teenager auf der ganzen Welt. Emma Gonzalez hat es geschafft, aber der Preis dafür war hoch. Bis zum Nachmittag des 14. Februar führte die junge Frau aus Parkland, Florida, das gleiche Leben wie Millionen anderer US-Mittelschüler auch: Lernen für den Abschluss, in den Pausen Erholung am Campus, am Weg nach Hause mit den Freunden SMS und Bilder auf Instagram austauschen.

Dann betrat Nikolas Cruz, ein allem Anschein nach mental schwer beeinträchtigter ehemaliger Mitschüler, die Marjory Stoneman Douglas High School, ermordete 17 ihrer Mitschüler und verletzte weitere 14 schwer. Die Waffe, die er dafür benutzte, ein AR-15 Sturmgewehr, hatte er ebenso legal erworben wie das Cola und den Cheeseburger, die er sich nach begangener Tat kaufte. Emma Gonzalez lief vor ihm davon und überlebte. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, beschloss sie, mit den bescheidenen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, etwas zu tun.

Als erstes eröffnete sie einen Account bei jenem Medium, das der Präsident der Vereinigten Staaten bevorzugt, wenn er seine Botschaften unter die Leute bringen will. Dann legte sie los: 280 Zeichen lange Brandreden gegen die bestehenden Waffengesetze, Retweets anderer von heute auf morgen zu Aktivisten mutierten Mitschülern, garniert mit Selfies und Bildern von Krankenhausbesuchen bei den Verletzten. Eine Mischung, die den Nerv der Öffentlichkeit in einem Ausmaß traf, den man bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Binnen nicht einmal einer Woche zählte Gonzalez‘ Twitter-Account @Emma4Change rund eine Million Follower. Das entspricht fast der doppelten Zahl jener, die dem Account der National Rifle Association (NRA) folgen - der seit neun Jahren existiert.

Kommt es zur Politisierung einer ganzen Generation?

Die Zeichen, dass spätestens seit dem Massaker von Parkland ein Ruck durch die USA geht, scheinen mittlerweile ebenso wenig übersehbar wie die Gesichter jener, die ihn repräsentieren. Es sind junge Amerikanerinnen und Amerikaner wie Emma Gonzalez, die genug haben von den in Stein gemeißelt geglaubten Weisheiten des politischen Establishments; nicht zuletzt, weil sie deren Folgen am eigenen Leib erfahren haben - im konkreten Fall den Glauben des Establishments daran, dass in eher konservativen Bundesstaaten wie Florida gegen die Waffenlobby kein Blumentopf zu gewinnen sei.

So emotional aufgeladen sich die Debatte um den Sinn und Unsinn strengerer Waffengesetze auch zeigt, stellt Parkland indes nur ein weiteres (wenn auch gewichtiges) Stück eines größeren Puzzles dar. Seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten hat die USA ein Politisierungsschub erfasst, der - oberflächlich besehen - qualitativ wie quantitativ in der modernen amerikanischen Geschichte keine Parallelen hat. Seinen Niederschlag findet er freilich in überproportionalem Ausmaß in der Domäne der Jungen: in den sozialen Medien. Die entscheidende Frage, die sich angesichts der landesweiten Welle an politischem Aktivismus stellt, seit ein 71-jähriger Ex-Reality-TV-Star ohne jede politische Erfahrung im Weißen Haus sitzt, lautet freilich immer gleich: Inwieweit verspricht der online gezeigte Enthusiasmus der Jungen in der analogen Welt Niederschlag zu finden - vor allem dann, wenn es um Wahlen geht? Handelt es sich dabei nur um ein den Umständen der Zeit geschuldetes Strohfeuer, das nur solange brennt, wie es von den Massenmedien befeuert wird? Oder erfahren die USA gerade - wie von moderaten Republikanern befürchtet und von liberalen Demokraten erhofft - wirklich eine nachhaltige Politisierung, die ganze Generationen prägen wird?

Nur 50 Prozent der unter-30-jährigen geht zur Wahl

Letztmals so umfassende wie aussagekräftige Zahlen darüber, wie Amerikas Jugend politisch tickt, lieferten die Präsidentschaftswahlen vom November 2016. Vor der Wahl taten sich - wie schon vier Jahre zuvor, als der Demokrat Barack Obama gegen den Republikaner Mitt Romney gewann - Sozialforscher von zwei so renommierten wie unabhängigen Institutionen zusammen, um die politischen Motive und Einstellungen der sogenannten Millenial-Generation zu erkunden: die vom Center for Information and Research on Civic Learning and Engagement (CIRCLE) der Tuft’s University in Medford, Massachussetts, und die von der Abteilung Governance Studies der in D.C. ansässigen Brookings Institution. Ihre erste Erkenntnis: Zur allgemeinen Überraschung gaben von den rund 24 Millionen Amerikanern, die am Stichtag unter 30 Jahre alt waren, bei der Präsidentschaftswahl nur die Hälfte ihre Stimmen ab - kaum mehr als vier Jahre zuvor. Wirklich interessant wurde es allerdings bei der Frage, wer wen gewählt hatte. 55 Prozent der Millenials entschieden sich für die Demokratin Hillary Clinton, und nur 37 für den Republikaner Trump.

Weitere bemerkenswerte Erkenntnisse der CIRCLE-Brookings-Studie, aus der sich etwaige Schlüsse zur Zukunft ziehen lassen: Während sich die überwältigende Mehrheit von Amerikas Jugendlichen in allen großen Fragen selbst als liberal definiert, heißt das noch lange nicht, dass sie deshalb wählen gehen - und schon gar nicht, dass sie deshalb quasi automatisch für die Demokraten stimmen würden.

Ein wichtiger Grund, warum die Anti-Waffen-Aktivistin und Überlebende des Schulmassakers von Parkland, Emma Gonzalez, so vielen ihrer Altersgenossen quer durchs Land glaubwürdig erscheint, besteht darin, dass sie bei ihrer Kritik an den Befürwortern laxer Waffengesetze bisher Demokraten ebenso kritisiert wie Republikaner - wiewohl Letztere in weit höheren Ausmaß von der NRA gesponsert werden. Wie sich vor allem auf Bundesstaatsebene herausstellt, wo Volksabstimmungen über die Marihuana-Legalisierung bisweilen zu Rekord-Wahlbeteiligungen führen, erweisen sich in der Realität Millionen Jugendliche bei näherem Hinsehen als sogenannte Single Issue-Voters. Sie sind vielleicht mehrheitlich liberal, ermöglichen es mit ihrem Fernbleiben von den Urnen aber bis heute manchmal sogar den konservativsten aller konservativen Politikern, ins Amt zu kommen.

Kommt die "Blaue Wellefür die Demokraten?"

Auch wenn es bei den rund drei Dutzend Regionalwahlen, die seit der Angelobung Trumps stattfanden, selbst in republikanischen Hochburgen satte Zugewinne für die Demokraten gab, deutet bis jetzt wenig darauf hin, dass die prognostizierte "Blaue Welle", die selbst vorsichtige Meinungsforscher für die Midterms im November vorhersagen, von Amerikas Jugend getragen wird.

Allein aufgrund der Stärke ihrer Alterskohorte hätten die Millenials keinerlei Problem, die Machtverhältnisse in den USA entscheidend und nachhaltig zu verändern - aber weil mindestens die Hälfte von ihnen am Wahltag schlicht nicht auf- und ankreuzt, passiert das nicht. Nicht, dass es ihre Schuld allein wäre: Oft wurden die Grenzen der Wahlbezirke zum Vorteil der Republikaner manipuliert. Der Glaube, etwas verändern zu können, wird ihnen nicht zuletzt aufgrund des amerikanischen Wahlsystems schwer gemacht.

Einzig, wenn ein singuläres Ereignis - siehe Parkland - die Jungen aus dem Ohnmachtsschlaf reißt und es schafft, überregional diskutiert zu werden, besteht kurzfristig Hoffnung auf Besserung. Wie es langfristig aussieht, ist eine andere Frage. Das einzige, was sich indes getrost prognostizieren lässt, ist, dass die Schere zwischen liberalen und konservativen Bundesstaaten in diesem Zusammenhang noch weiter auseinander klaffen wird als jetzt schon.

Über die Gründe für Letzteres haben sich Sozialwissenschaftler und Journalisten in den vergangenen Jahren weidlich ausgelassen, aber ein politisches Echo finden ihre Erkenntnisse bis heute keins. In diesem Kontext immer noch hochaktuell ist etwa das 2009 erschienene Buch "The Dumbest Generation", in dem Mark Bauerlein, Englisch-Professor an der Emory University und ehemaliger Direktor der Abteilung Research and Analysis am National Endowment for the Arts, darlegt, wie es Anfang des 21. Jahrhunderts um die Mehrheit von Amerikas Jugend bestellt ist: katastrophal. Laut Bauerlein geht mittlerweile "mehr als eine ganze Generation verloren, der eine derartige Aversion gegen das geschriebene Wort anerzogen worden ist, dass sie überhaupt nichts mehr von Wert lesen. Stattdessen sind sie süchtig nach dem digitalen Müll, der ihnen auf Social Media serviert wird."

Nur 2,8 Prozent in Oklahoma bestünden den Staatsbürgertest

Entwicklungen wie diese treffen naturgemäß die Jugend in den sogenannten Flyover States am härtesten. Beispiel Oklahoma: Im seit Jahren von den Republikanern mit absoluter Mehrheit regierten "Sooner State" gibt es heute in zahlreichen Bezirken nur mehr vier Tage die Woche Schulunterricht, weil die Bundesstaatsregierung so lange und so viele Steuern zugunsten der Upper Middle Class und der Reichen gekürzt hat, dass schlicht kein Geld mehr für die öffentliche Erziehung da ist. "Dramatisch" ist angesichts dessen, was sich dort abspielt (und mittlerweile auch in Nachbarstaaten wie Kansas und Arkansas) kein Ausdruck mehr. Als das Oklahoma Council of Public Affairs 2016 eine Umfrage unter Mittelschülern in Auftrag gab, die kurz vorm Abschluss standen, wussten 77 Prozent der Befragten nicht, dass George Washington der erste Präsident der USA war und dass der Autor der Unabhängigkeitserklärung Thomas Jefferson heißt. Den Staatsbürgerschaftstest - der etwa Immigranten abverlangt wird, die den amerikanischen Pass haben wollen -, bestanden sage und schreibe nur 2,8 Prozent aller Befragten.

Wählen gehen steht dementsprechend auf der Prioritätenliste der Millenials in Bundesstaaten wie Oklahoma ungefähr so hoch wie Donald Trumps Wille, die NRA an die Kandare zu nehmen; auf jeden Fall weit unter Beten. Und solange sich jene Hälfte der amerikanischen Jugend, die nicht daran glaubt, dass der liebe Gott ihre Probleme lösen wird, weiterhin weitgehend passiv bleibt, bleiben "Hope" und "Change" vorerst weiter nur Schlagworte aus einem Wahlkampf, der einmal in einem Land vor unserer Zeit stattgefunden hat.