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"Menschenrechte sind heilig"

Von Thomas Seifert

Politik
William L. Swing fordert von Politikern mehr Mut bei der Bewältigung der globalen Wanderungsbewegungen.
© Thomas Seifert

Der Generalsekretär der Internationalen Organisation für Migration über Asyl, Menschenschmuggler und Mut zur Debatte.


"Wiener Zeitung": Sowohl in Europa als auch in den USA dominieren die Themen "Migration" und "Asyl" die Schlagzeilen. Herr Swing, Sie sind Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration - IOM. Wie beurteilen Sie die derzeitige Debatte?William L. Swing: Migration ist so alt wie die Menschheit, sie ist Teil unserer DNA, seit sich die ersten Menschen von Afrika aus auf den Weg in alle Himmelsrichtungen gemacht haben. Wenn man über die Gründe von Migration nachdenkt, wird man auch erkennen, dass Migration unvermeidlich ist. Das Dumme ist, dass die politische Führung in den meisten Ländern die Diskussion scheut. Politiker wollen wiedergewählt werden und sie wissen, dass man mit dem Migrationsthema keine Wahlen gewinnen kann. Eine Akzeptanz von Migration geht mit der Akzeptanz von Diversität einher - um aber diese Akzeptanz zu bekommen, braucht man Programme für Integration und soziale Inklusion.

Hauptbetroffen von der durch den Syrien-Krieg ausgelösten Flüchtlingsbewegung war ja gar nicht Europa, sondern die direkten Nachbarn: die Türkei, der Libanon, Jordanien und der Irak.

So ist es. Die etwa eineinhalb Millionen Menschen, die 2015 und 2016 nach Europa gekommen sind, machen weniger als ein halbes Prozent der EU-Bevölkerung von 550 Millionen Einwohnern aus. Der Libanon mit 4,5 Millionen Einwohnern hat dieselbe Zahl von Flüchtlingen aufgenommen, nämlich 1,5 Millionen Syrer. Dazu kommen noch rund 500.000 Palästinenser, die in früheren Zeiten in den Libanon geflüchtet sind. Jordanien, das ohnehin an Trockenheit leidet - das Land stand bisher an fünfter Stelle in der Liste der Länder mit der größten Wasserknappheit -, steht nun an zweiter Stelle in dieser Liste. Der Grund: Jordanien braucht heute viel mehr Wasser, nicht zuletzt, um Flüchtlinge aus Syrien zu versorgen. Oder denken Sie an die Türkei: Das Land ist heute jenes mit der größten Flüchtlingspopulation, nämlich 3,5 Millionen. Ankara hat diesen Menschen den Arbeitsmarkt und den Zugang zu den öffentlichen Diensten eröffnet. Die Leistungen der vier Nachbarländer Syriens in der Versorgung von Flüchtlingen wurden nie ausreichend gewürdigt.

Die Regierungen jener Länder, die vor großen demografischen Herausforderungen stehen - wie etwa Ungarn oder Polen -, sprechen sich am deutlichsten gegen eine europäische Lösung der Flüchtlings-Frage aus und sind die lautesten Kritiker der Position der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage. Wie lautet Ihre Interpretation?Manchen Regierungen ist die demografische Herausforderung vielleicht nicht bewusst. Ein Beispiel: Das Durchschnittsalter im Niger ist 14 Jahre. In Ungarn liegt das Durchschnittsalter bei über 42 Jahren, in Deutschland liegt es bei 47. Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, was das bedeutet. Wir müssen entweder lernen, Migration zu managen, oder Migration wird uns managen. Und verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht jemand, der für total offene Grenzen plädiert. Grenzen sind eine Frage der nationalen Souveränität. Massen-Migration ist kein Problem, das man lösen kann, sondern das ist eine menschliche Realität, die man bewältigen muss. Und das funktioniert auch: In Deutschland haben wir im Jahr 2016 etwa 54.000 Migranten bei der freiwilligen Rückkehr in ihre Herkunftsländer unterstützt. Diese Menschen sind nach Deutschland gekommen, haben dort nicht das große Glück gefunden und waren nicht zuletzt aus diesem Grund bereit, zurückzugehen. Es braucht zudem den Mut zu einer öffentlichen Debatte, sodass die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass Migration unvermeidlich, notwendig und sogar wünschenswert ist, solange wir Migration kompetent managen.

Fehlt in den Herkunftsländern nicht vielfach ein realistisches Bild von den Chancen für Migranten in Europa?

Erstens: Es stimmt gar nicht, dass jeder in den Norden will. Süd-Süd-Migration ist genauso bedeutend wie Süd-Nord-Migration. Wir haben in Libyen eine Umfrage unter den Migranten durchgeführt. Dabei hat sich herausgestellt, dass 54 Prozent gar keine Intention hatten, nach Europa zu gehen. Sie haben geglaubt, dass sie in Libyen Arbeit finden würden. Dann haben die meisten aber festgestellt, dass das Land zu instabil ist, und sie hatten das Gefühl, gezwungen zu sein, nach Europa weiterzuziehen. Nach Hause wollten die meisten nicht zurückgehen, denn das wäre ein Eingeständnis des Scheiterns gewesen. In Europa wiederum fehlt eine langfristige und breit gefächerte Asyl- und Migrationspolitik.

Könnte nicht auch eines der Probleme sein, dass die Kosten und der Nutzen von Migration ungleich verteilt sind? Nutznießer sind Unternehmen, die billige Arbeitskräfte suchen, oder Familien, die Haushaltshilfen beschäftigen, während Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter mit steigenden Mieten für günstigeren Wohnraum und mehr Wettbewerb am Arbeitsmarkt beziehungsweise mehr Konkurrenz, wenn es um Sozialleistungen geht, konfrontiert sind.

Je früher ein Migrant Arbeit bekommt, umso früher zahlt er auch Steuern. Wenn es zu Fällen von Schwarzarbeit kommt, dann muss man eine offene Diskussion mit dem privaten Sektor führen und diese Dinge abstellen. Migranten nehmen in der Regel niemandem Arbeit weg, sie schaffen Arbeitsplätze. Wir haben gemeinsam mit dem McKinsey Global Institute erst vor kurzem eine Studie durchgeführt: Nach den Ergebnissen dieser Studie repräsentieren Migranten dreieinhalb Prozent der Weltbevölkerung, sind aber für neun Prozent des globalen Bruttosozialprodukts verantwortlich. Migranten, die ihr Zuhause verlassen, sind also um vier Prozentpunkte produktiver, als wenn sie zu Hause geblieben werden. Ich sage ja nicht, dass alle Migranten Engel sind. Aber: Wir brauchen ihre Arbeitskraft.

Viele Bürger fürchten bei einem Anstieg der Migration auch einen Anstieg der Kriminalität.

Zu Unrecht. Die meisten Migranten werden alles dafür tun, dass sie in den Augen der Polizei nicht auffällig werden. Die grausame Ironie ist ja auch, dass Migranten, die in vielen Fällen vor Terrorismus fliehen, in den Zielländern dann des Terrorismus verdächtigt werden.

Für US-Präsident Donald Trump war Terrorismus ein Grund, den Bürgern einiger Länder die Einreise zu verbieten.

IOM hat gemeinsam mit dem UNHCR seit 1980 rund 3,5 Millionen Flüchtlinge in die USA gebracht. Kein Einziger von denen war in einen Terroranschlag verwickelt.

Beim EU-Afrika-Gipfel im vergangenen November in Abidjan wurde nach Lösungen in der Migrationsfrage gesucht. Sind die Antworten aus Ihrer Sicht befriedigend?

Die fragile Koalition zwischen Europa und Afrika muss man dringend weiter vertiefen. Wir haben seither unsere Bemühungen jedenfalls verstärkt und haben von November 2017 bis heute rund 15.000 Menschen aus den Schubhaftlagern - in denen zum Teil unerträgliche Zustände geherrscht haben - gebracht, und wir werden in den nächsten Monaten tausende weitere aus diesen Lagern bringen. Es wird aber auch darum gehen, dass jene, die kein Recht auf Asyl und keine Aussicht auf Migration nach Europa haben, in ihre Herkunftsländer zurückzureisen. Wir haben in Agadez im Niger ein Zentrum, dort haben wir 9000 Menschen die Rückkehr in ihre Herkunftsländer ermöglicht. Es gelingt uns auch, viele Menschen davor zu bewahren, sich in die Hände von Menschenschmugglern zu begeben. Wenn jemand Recht auf Asyl hat, wendet er oder sie sich ans UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Es gibt aber auch Menschen, die haben das Gefühl, dass sie einen Fehler gemacht haben, als sie sich auf ihre höchst gefährliche Reise begeben haben. Wenn diese Menschen dann eine Möglichkeit zur Rückkehr suchen, dann helfen wir ihnen. So können wir Menschenleben retten. Die Migranten in den Zielländern haben aber auch eine Verantwortung: Sie müssen den gemeinsamen Werten folgen und den gemeinsamen Interessen dienen. Sie können nicht einfach nur Trittbrettfahrer sein.

Wie sieht aus Ihrer Sicht eine moderne Asyl- und Migrationspolitik aus?

Menschenleben sind heilig, daher müssen wir alles unternehmen, um Menschen entlang der Migrationsrouten zu retten. Wir müssen aber auch Menschenschmuggler vor Gericht bringen.

Zur Person

William L. Swing

William Lacy Swing (geboren 1934 in Lexington, North Carolina) ist Generaldirektor der International Organization for Migration (IOM). Er ist früherer US-Diplomat (u.a. im Kongo, Liberia, Nigeria und Haiti) und stv. UN-Generalsekretär.