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"Österreich sollte mit Russland viel pragmatischer umgehen"

Von Eva Zelechowski

Politik

Aktivistin Anna Neistat erklärt, wie viel Macht NGOs haben und weshalb Russland ein heikler Partner ist.


Wiener Zeitung: Sie reisen seit 20 Jahren in Krisenregionen und dokumentieren Verstöße gegen Menschenrechte. Wie hat sich ihre Arbeit in dieser Zeit geändert?

Anna Neistat: Das Tätigkeitsfeld ist viel professioneller geworden. Die freiwillige und aktivistische Bewegung hat sich in ein professionelleres Feld verwandelt. Aufgrund neuer Herausforderungen und um von staatlichen bzw. nicht-staatlichen Akteuren als Gegner ernst genommen zu werden, mussten wir in neue Forschungsmethoden investieren. Neben Interviews, Foto- und Videomaterial nutzen wir auch moderne Technologien wie Satellitenbilder. Diese liefern etwa Beweise, dass Rohingya-Dörfer zu einem bestimmten Zeitpunkt attackiert wurden und in Flammen standen. Menschenrechtsberichte werden heute viel ernster genommen.

Wie viel Macht haben Menschenrechtsorganisationen?

Nun, wir besitzen weder Militär, noch haben wir eine politische Lobby oder eine Propagandamaschine hinter uns. Nur Stift und Notizblock. Aber wir können Dinge bewirken, die sonst mit Macht assoziiert werden. Zum Beispiel Menschen aus Haft zu befreien, Druck auf Regierungen auszuüben, damit diese Gesetze ändern oder Unternehmen für Umweltsünden hohe Strafen zahlen lassen. Wir dokumentieren nicht nur Menschenrechtsverletzungen, sondern können ganz konkrete Ergebnisse erzielen.

Wieso werden NGOs ernster genommen als früher? Hat die Art des politischen Drucks sich verändert?

Ja. Wir haben weltweit viel besseren Zugang zu Regierungen. Es wurden neue Institutionen wie der Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegründet und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ab 1998 hat enorm an Einfluss gewonnen. Die Normen von Menschenrechtsgesetzen werden zunehmend akzeptiert. Das bedeutet nicht, dass Menschenrechtsverletzungen ausbleiben, aber es gibt einen rechtlichen Rahmen bei Verhandlungen mit offiziellen Akteuren oder Rebellengruppen. Anders als vor 20 Jahren wissen sie genau, dass sie in Den Haag angeklagt werden können.

Da die positiven Entwicklungen der Vergangenheit heute aber bedroht sind, werden wir extrem gefordert. Die Bedrohung kommt nicht nur aus Russland, China oder Saudi-Arabien, sondern von westlichen Akteuren, die wir als unsere Verbündeten in Menschenrechtsbemühungen angesehen haben. Ihre Rhetorik ist sehr aggressiv und die Art der Kommunikation mit ihrem Publikum, den Wählern, ist leider sehr effizient. Sie spielen mit Unsicherheiten und Ängsten der Menschen.

Sind das die neuen Herausforderungen von NGOs heute?

Ja, wir müssen uns fragen, wie wir mit den Menschen sprechen sollen, um den Staatschefs etwas entgegenzubringen, die diese Anti-Menschenrechtsbewegungen entfachen.

Genau das scheint gerade in EU-Staaten wie Ungarn oder Polen zu geschehen.

Ja, aber die Trendumkehr betrifft nicht nur diese Länder oder China und Indien, sondern auch die USA, Großbritannien, Österreich und die Niederlande. Die Liste umfasst Länder, die zwar nicht perfekt beim Schutz von Menschenrechten sind, aber es war bisher auf sie Verlass, wenn es um den europäischen Konsens zur Einhaltung von Menschenrechten in Syrien und Russland ging. Das ist jetzt anders.

Sie selbst fahren seit Jahren in Krisenregionen. Warum ist es wichtig, für Sie als AI vorort zu sein, um die Sicherheitslage und die Vergehen an Menschen zu dokumentieren?

Im Gespräch mit der betreffenden Regierung hat man einen besseren Ausgangspunkt, wenn man sagt, man hat zerbombte Krankenhäuser selbst gesehen als wenn man sich auf einen Bericht beruf. Vor Ort zu sein ermöglicht uns, mit den Zeugen direkt zu sprechen und wichtiges Beweismaterial zu sammeln. (Die Recherchen von Amnesty International waren maßgeblich entscheidend im Tribunal gegen Slobodan Milosevic, das 2000 in Den Haag stattfand. Anm. d. Red.)

Sie haben auch von Gesprächen mit Tätern erzählt. Wie kommt es, dass diese sich Ihnen offenbaren?

Bei unseren Ermittlungen achten wir immer darauf, mehrere Seiten von Ereignissen zu zeigen und Täter selbst zu Wort kommen zu lassen. Wir senden unsere Berichte immer an die Firmen oder Regierungen, damit sie dazu Stellung nehmen können. Manchmal tun sie es, manchmal nicht. Natürlich bekommt man nicht immer Geständnisse von Personen, die wir verdächtigen, Menschenrechte zu verletzen, aber Sie würden sich wundern, was die Menschen alles preisgeben. Der philippinische Präsident Duterte erzählt offen vor der Kamera von seinen Gräueltaten.

Weil er keine Angst hat und glaubt, nichts befürchten zu müssen.

Der Tag kann kommen, an dem ihn seine Aussagen in der Anklageschrift einholen. Für eine Verurteilung muss der Vorsatz nachgewiesen werden. Den wird er nicht abstreiten können, denn er erzählt, dass er die entsprechenden Befehle erteilt hat. Man muss nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, ähnlich wie beim serbischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic, der wegen Völkermordes vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagt wurde. Ein großer Teil der Anklageschriften bestehen aus den Aussagen der Täter.

Sie sind eine Protagonistin der Netflix-Doku "E-Team", das Menschenrechtsbeobachter bei der Arbeit begleitet. Während der Dreharbeiten glaubten die Filmemacher an ein baldiges Ende des Syrien-Krieges. Das Gegenteil ist der Fall. Bashar al-Assad bekam Rückhalt von Wladimir Putin. Es existieren Berichte von mehreren Chemiewaffeneinsätzen von 2014 und auch 2017. War das damals zu erwarten?

Nein. Der Arabische Frühling, der Sturz Gaddafis, der Aufruhr in Ägypten und Tunesien. Das alles ließ uns auf ein baldiges Ende der Konflikte hoffen. Diese waren aber damals noch nicht so komplex: Auf der einen Seite war die syrische Regierung und auf der anderen mehrere, aber in eine säkulare Richtung gehende, Oppositionsgruppen. IS, Al Nusra oder Russland waren noch nicht in Sicht. Als gegen Ende der Dreharbeiten im September 2013 in Syrien die ersten Chemiewaffen abgeworfen wurden, habe ich realisiert, dass der Krieg noch lange dauern würde.

Sie waren auch in Afghanistan. Es gilt als sicheres Herkunftsland. Vor allem die Hauptstadt ist immer wieder Ziel von Anschlägen. 2017 starben 500 Menschen, alleine 2018 bereits 150. Das Außenministerium in Österreich stellt eine Reisewarnung aus, keine Region sei demnach für Touristen sicher, aufgrund der Sicherheitslage gibt es keine österreichische Botschaft. Seit gut 40 Jahren herrscht Krieg. Österreich besteht auf der harten Linie und setzt Abschiebungen nach Afghanistan im Gegensatz zu Deutschland fort. Wo sind sichere Zonen in Afghanistan?

Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. Es ist ein sehr westlicher Zugang, wenn man sich als Wiener vorstellt, geflüchtet zu sein und es ländliche Regionen in Österreich gibt, die sicher sind und in die man zurückkehren kann. Das ist in Afghanistan nicht möglich, denn man berücksichtigt dabei die ethnische Komplexität des Landes nicht. Man kann eine Person aus einer Provinz nicht in eine andere Provinz schicken.

Wie sollen Staaten mit straffälligen Asylwerbern umgehen?

Wenn die Person die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen kann, sollte sie juristisch belangt werden. Die Entscheidung muss aber auf der Genfer Menschenrechtskonvention basieren. Man kann Menschen nicht in Länder zurückschicken, wenn sie dort in Lebensgefahr sind. Ein europäisches Land zu sein, bedeutet, sich der Aufrechterhaltung der Demokratie und dem Schutz der Menschenrechte zu widmen. Dafür gibt es Regeln.

Werden diese Menschen die österreichische Gesellschaftsstruktur zerstören? Nein. Kann Europa die Zahl der Flüchtlinge bewältigen? Ja. Wird es schwierig? Ja, absolut. Aber nicht, weil es so viele sind, sondern weil Zuwanderung Integrationsmaßnahmen erfordert. Eine Abschiebung ist nicht legitim. Die Alternative lautet: Hört auf, so zu tun, als sei euch die Wahrung von Menschenrechten ein Anliegen. Ich möchte die Österreicher bitten, darüber nachdenken, wer für ihre Menschenrechte kämpfen soll, wenn der Einsatz für Andere nicht relevant ist. Menschenrechtsschutz ist kein Selbstbedienungsladen, es beginnt immer mit jemandem Anderen. Betroffen sind Minderheiten, Homosexuelle, Frauen, Gruppierungen, deren Rechte eingeschränkt werden. Da kann man nicht wählerisch sein. Es geht nicht um Flüchtlinge oder Minderheiten, es fängt nur bei ihnen an. Der Nächste bist Du.

Die Menschenrechtslage wird in Russland häufig kritisiert. Wie sehen die Arbeitsbedingungen von Menschenrechtsaktivisten dort aus?

Ihre Arbeit wird in Russland extrem erschwert, sie müssen sie sich im Falle ausländischer Finanzierung als ausländische Agenten ausweisen. Eine Folge davon ist Selbstzensur. NGOs thematisieren häufig nur noch Themen, mit denen sie bei der Regierung nicht anecken. Aber ihr Job ist, die Regierung dort herauszufordern, wo es Probleme gibt. Ein Großteil der Arbeitszeit fließt in das administrative Vorbei-Jonglieren an den strengen Vorgaben.

Wie sollte die EU reagieren?

Es ist erstaunlich, mit welchen Aktionen autoritäre Staatschefs davonkommen. Der Grad der Straffreiheit ergibt sich daraus, dass kein Staat Kritik öffentlich äußert. Besonders schlimm ist es, wenn EU-Staaten schweigen. Nehmen wir die USA, wo wir täglich mit wahnsinnigen Ereignissen konfrontiert werden. Da funktioniert zumindest das Rechtssystem noch und verhindert die schlimmsten Entscheidungen von Donald Trump. Österreich, Deutschland und Frankreich verstehen nicht, dass sich Russland durch ihre fehlende Kritik, in den Großmachtfantasien bestärkt fühlt, etwa wenn wir an die Krim-Annexion denken.

Für Österreich ist es wichtig, bilaterale Beziehungen zu Russland erhalten. Es kommt doch nicht überraschend, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz nach den Präsidentschaftswahlen, bei denen unabhängige Beobachter 3000 Unstimmigkeiten feststellten, Präsident Wladimir Putin trotzdem die Hand schüttelt, oder?

Nein, das ist nicht überraschend. Dennoch sollten wir natürlich empört sein. Aber es gibt auch eine sachliche Antwort: Österreich sollte im Umgang mit Russland viel pragmatischer vorgehen und überlegen, ob es einem Mann wie Putin vertrauen sollte. Nicht nur aufgrund der Menschenrechtslage, ausgehöhlter staatlicher Justiz, des Korruptionsausmaßes im Land, desolater Wirtschaft und eingeschränkter Meinungsfreiheit. Ist Vertrauen möglich, wenn diese Person gewaltsam eine Region des Nachbarlandes erobert? Vergiss die Ideologie. Glaubst du ihm, dass du nicht der Nächste bist? Es ist ein sehr gefährliches Spiel. Österreich vergisst, welchen Einfluss Russland auf die EU hat, wenn es ihm den Rücken zudreht. Bei einer Kooperation zwischen Russland und Wladimir Putin geht es nicht um das Abnicken der Ideologie. Es geht um viel mehr. Das sollte man nicht vergessen.

Die gebürtige Russin Anna Neistat ist Juristin und
Menschenrechtsaktivistin. Sie machte ihren Abschluss an der Harvard Law und arbeitet heute als Research Director bei Amnesty International. Davor reiste sie für Human Rights Watch 60 Mal in Krisenregionen, um Menschenrechtsvergehen zu dokumentieren, unter anderem nach Syrien und Afghanistan.